Was weiss das Konzertpublikum heute von dem 1876 in Warschau geborenen Pianisten? Wegen seiner Tätigkeit im revolutionären Flügel der Polnischen Sozialistischen Partei wurde Eugeniusz Morawski-Dąbrowa vom Zaren vier Jahre nach Sibirien verbannt, durfte dank Einspruch seines Vaters aber nach Frankreich emigrieren und avancierte später sogar zum Direktor der Musikakademie seiner Heimatstadt. Bekannt sind heute insbesondere seine Opern, Ballette und drei Sinfonien. Außerdem schrieb der vielseitig talentierte Komponist sechs sinfonische Dichtungen, zwei Klavierkonzerte und ein Violinkonzert, sieben Streichquartette, acht Klavier- und zwei Violinsonaten, ein Streichquartett, zwei Schauspielmusiken und daneben auch Klavierstücke wie das frühe Praeludium C-Dur (1902) und Lieder.

Zunächst hatte Morawski zusammen mit dem ebenso vielfach versierten Litauer M. K. Čiurlionis Malerei, unter anderem bei Jan Kauzik und Ferdynand Ruszczyc studiert – gleichzeitig aber Klavier, dann Komposition bei keinem Geringeren als Zygmunt Noskowski. Nach der abgewendeten Verurteilung zum sibirischen Arbeitslager gelang es ihm im französischen Exil, in Paris bald sein Tonkunststudium bei André Gedalge und Camille Chevillard, letzterer Dirigent der Uraufführung von Debussys Nocturnes, fortzusetzen. Gleichzeitig griff er auch den akademischen Unterricht in der Malerei – hier bei Antoine Bourdelle – wieder auf. 1930 konnte er aus dem Exil nach Polen zurückkehren und konnte dort bereits als Rektor der Musikhochschule in Posen wirken, bevor er – in Folge des Ausscheidens von Karol Szymanowski – von 1932 bis 1939 dessen Leitung der Musikakademie in Warschau (wo er 1948 verstarb) übernehmen konnte.
Der Einbruch des Zweiten Weltkriegs zwang Morawski an einem Konservatorium im Untergrund bei Stanisław Kazuro weiterzulehren. Von 1944 an unterrichtete er in Ruda Pabianicka, konnte aber 1947 nach Warschau zurückkehren. Stilistisch betrachtet steht sein Schaffen dem Expressionismus nahe, denn in seinem Werk verbindet sich ausgefeilte Kontrapunktik mit intensiven, gelegentlich zu Brillanz und triumphalem Gestus neigenden Klangfarben. Auch elegisch-lyrische Töne finden ihren Platz, etwa in seinen Orchesterwerken wie in der Tondichtung Nevermore (1911) nach E.A. Poes The Raven.
Die auffällig breite Interessenspalette des Komponisten rührt sicher zu einem Teil von seinen Cross-over-Tendenzen zwischen verschiedenen Künsten, die Literatur inbegriffen, her. Auch die einzelnen Werkgruppen weisen in sich völlig verschiedene Sujets auf: Nach einem Jugendwerk wie der Messe Msza czestochowska (1902) schrieb er – beeinflusst von der Lyrik der Décadence und der Kunst des Jugendstils – Lieder wie Un Grand sommeil noir nach Paul Verlaine (1907), La détresse (1910) nach Leopold Staff, A ci co gina w boju (1911) auf ein Gedicht der Lyrikerin Maria Konopnicka oder Für die Zeit (1940) nach Romain Rolland und zu Heinrich Heines Du bist wie eine Blume (1945). Wenigstens ebenso breit liest sich die Thematik der sinfonischen Dichtungen: Don Kichot entstand 1909, später das grotesk-düstere Hop-Frog nach Poe, Irydion und Ahasweries. Er komponierte das Oratorium Baskische Komödie und das Balet gotycki sowie die Oper Pan Tadeusz nach dem Evergreen-Versepos des romantischen Dichters Adam Mickiewicz.

Als Einspielungen aus dem Gesamtwerk ist die Auswahl Symphonische Dichtungen (2012, B007N0SVE2) beim Label CD Accord mit der Sinfonia Varsovia zu nennen. In dieser neuen Aufnahme sind sowohl Don Kichot als auch Ulalume und Nevermore zu hören, letzteres übrigens auch in einer empfehlenswerten Produktion von Deutschlandradio Kultur mit dem Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt unter Jürgen Bruns in der Reihe poland abroad (Vol. 2 Symphonic Poems, 2007, B0012D3AMO), auf der auch programmatische Orchesterwerke von Grzegorz Fitelberg, Alexandre Tansman und Simon Laks versammelt sind.
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