Klänge verborgener Orte

Bekanntlich experimentierte Karlheinz Stockhausen einst mit Geräuschen als musikverwandten Klangereignissen und setzte sie in räumliche Bezüge. So entstand 1968 sein innovatives experimentelles Gemeinschaftswerk Musik für ein Haus, in Verbindung mit dem Posaunisten Vinko Globokar, dem Geiger Saschko Gawriloff und dem Oboisten Heinz Holliger – und nicht zuletzt dem Publikum, das akustische Erfahrungen in den Räumlichkeiten eines Bauwerks machen sollte. Die Begehung wurde dirigiert und aufgenommen aus dem Keller des Moller-Hauses zu Darmstadt, ohnehin in einer symbolträchtigen europäischen Stadt der Neuen Musik.

Aarhus ist Heimatstadt und vornehmlicher Arbeitsort von Anna Jalving. Sie ist Gründerin des Konzertkollektivs Duo, Mitglied des Pegasus Ensembles und des Quatuor Umlaut.

Dass ein solches Konzept auch außerhalb der vier Wände im Gesamtraum einer Stadt Erfolg haben kann, zeigt nicht nur die Beschallung von Plätzen in Japan und Deutschland, um den charakteristischen Ton bestimmter Örtlichkeiten einzufangen, sondern auch ein der Corona-Zeit geschuldetes Projekt in Aarhus, das von der Violinistin und Komponistin Anna Jalving initiiert wurde. Bei ihrer Begehung des 2019 zur Geisterstadt mutierten, sonst äußerst lebendigen jütländischen Zentrums urbaner Kultur wählte sie besondere Räume und Standpunkte aus und erforschte sie auf ihrer Geige spielend, teils auch mit improvisatorischer Absicht, nach deren akustischen Eigenschaften.

Das MP3-Album ‚Toile‘ erschien 2022 bei MoBC, einem dänischen Independent Label.

Greifbar wurde das experimentelle Projekt durch ihr 2022 erschienenes Album Toile – Lyden af skjulte steder für eine große Öffentlichkeit greifbar wurde. Klangfarben, insbesondere rhythmische, spielen bei ihrem Entwurf eine wichtige Rolle. Mit Toile wurde wohl auf die französische Bezeichnung für eine weiße Leinwand oder auf „leere Räume“ angespielt.

Ihr Studium absolvierte Anna Jalving zunächst an Det Jyske Musikkonservatorium Aarhus. (RhinoMind, 8.4.2014, CC-Liz.)

In der Abfolge der Sätze spielt Jalvings erstes Soloalbum, erschienen beim Label MoBC, Ministery of Broken Connections, formal auf die Tradition der Suite an: Der Begriff Toile für die inhaltsleere, unbeschriebene Fläche taucht immer wieder als Referenz oder roter Faden auf, nicht nur, um den Zusammenhang zu gewährleisten, sondern auch die Nähe der Orte zueinander mit den Mitteln der zeitgenössischen Musik zu beschreiben. Dementsprechend taucht der zentrale Titel Toile an drei Stellen auf, mit römischen Ziffern bezeichnet. Das Mittelstück trägt gleichzeitig die Benennung Airs als konkrete Allusion auf den barocken Satz. Dazu kommen stadtgeographisch vage, ohne genaue Adressierung bezeichnete klangliche Einheiten wie Under cyclebanen („Unter der Radrennbahn“), die ganz konkrete Ortsbezeichnung Mathilde Fibigers Have („Das Haus von Mathilde Fibiger“) und als Schlusssatz das von einem bestimmten Ort abstrahierende, undefinierbare Finder sted („Findet statt“). Die Wohnung Mathilde Fibigers (1830 – 1872) steht nicht ohne Grund im Mittelpunkt des Albums; diese war eine bedeutende dänische Dichterin und Vorkämpferin der Gleichberechtigung von Frau und Mann.

Anna Jalving, Jahrgang 1991, verfügt als Musikerin wie Komponistin über ein breites Repertoire zwischen Klassik, zeitgenössischer Musik und Improvisationskunst. Sie studierte am Jyske Musikkonservatorium in Aarhus und besuchte Meisterkurse bei prominenten Violinisten. In Belgien erwarb sie den Master of Contemporary Music. Bislang trat sie bei etlichen internationalen Festivals auf und agiert im ganz praktischen Sinn als häufig improvisierende Konzertgeigerin in Formationen wie der Athelas Sinfonietta, der Århus Sinfonietta dem Ensemble Intercontemporain und dem Ulysses Ensemble.


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