Das Wunderkind aus Florenz
Il primo libro delle musiche, 1618 veröffentlicht, war das einzige Buch der einunddreißigjährigen Virtuosin Francesca Caccini, das unmittelbar aus ihrer persönlichen Gesangsübung entstanden ist. Es handelt sich um eine der größten Sammlungen von Kammermonodien überhaupt, die verschiedene Vokalformen der Zeit repräsentieren: Sonetti, Ottave, Ottave sopra la Romanesca, Canzonette, Mottetti, Hinni, Arie, Arie allegre und Madrigali. Dabei erscheinen weltliche und geistliche Lieder in bunter Mischung. Alleine vier Beispiele widmen sich der Romanesca-Ottava, die eine gebundenere Form des Basso ostinato darstellt. In der besonderen Behandlung des Basses ebenso wie in der Tendenz zur strengeren motivischen Einheit liegt der fortschrittliche Charakter der Edition begründet. Caccini greift aber in der kompositorischen Praxis die Unterscheidung zwischen dem nichtstrophigen, einteiligen Madrigal und der strophisch-mehrteiligen und durchkomponierten Arie auf, die der seinerzeit noch bekanntere Vater, Giulio Caccini (1546 – 1618), als bis dahin einziger Musiker in seinem Werk Le nuove musiche (1601) getroffen hatte.


Sowohl mit der frühesten Liededition von 1602 als auch in der zweiten von 1614 legte die Komponistin, die später vom Publikum den Übernamen „La Cecchina“ („Die gute Tochter“) erhielt, die Exegese zweier nach Ursprung und Anlass sehr verschiedener Arten der Liedkomposition, Madrigal und Arie, im Wechsel geistlicher und weltlicher Beispiele vor. Die Madrigale sind durchkomponierte, emotional aufgeladene Stücke eines gleichsam deklamatorischen recitar cantando. Demgegenüber stellen die Arien, die in aller Regel in geradem Takt stehen, die einfacheren strophischen Liedformen dar. Die Anlage der Kompositionen zeigt hier deutliche Ähnlichkeiten mit den entsprechenden veröffentlichten Werken des Vaters Giulio Caccini. Im Kontext seiner Kompositionen, derjenigen Viadanas, Guidottis und Galileis ist auch das von John Walter 1983 erwähnte prätonale Phänomen der auffallend konsequenten akkordischen Ausrichtung von Melodielinie und Bass zu nennen, die auf die Harmoniedominanz in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorausweist. Eine Abweichung von der herkömmlichen Behandlung der Kadenz zeigt sich darin, dass Francesca Caccini gewöhnlich die letzte Silbe der Solostimme auf der vorletzten Note, funktional betrachtet also auf dem „Leitton“, enden lässt.
Bevorzugte Begleitinstrumente der vor Konzertpublikum auftretenden Sängerin waren üblicherweise Chitarrone, Theorbe, Erzlaute oder Liuto attiorbato. Ergänzend mag, wie für ihre Zeit nachgewiesen, Caccini die fünfchörige spanische Barockgitarre, die „chitarra alla Spagnola“, benutzt haben. Doch begründete eigentlich das Lautenspiel ihren Ruf als Instrumentalistin. Dem Umfang und der spezifischen Behandlung der Begleitstimme folgend müsste die Laute oder Erzlaute das bevorzugte Begleitinstrument für ihre Lieder gewesen sein; die Theorbe scheidet hingegen aus. Nach zeitgenössischen Berichten zu urteilen verfügte sie auch über umfassende Kenntnisse in der Verzierungskunst ihrer Zeit. Im Zuge einer Romreise schreibt Monteverdi 1611, er habe Francesca Caccini „sehr schön singen und sehr schön Laute, Chitarrone und Gravicembalo spielen“ hören, als unübertrefflich schildert er jedoch die Gesangskünste der zu dieser Zeit weithin bekannten Virtuosin Adriana Basile aus Neapel. In der Uraufführung von Jacopo Peris Musikdrama Euridice (1600), d.h. gerade im Alter von 13 Jahren, war Francesca bereits als Sängerin verzeichnet. Sie übernahm die Ausführung der Arien und wirkte in den Chören mit, die Giulio zum Anlass der Oper komponiert hatte. Außerdem sang sie in der Pastorale Il rapimento di Cefalo ihres Vaters mit, der sie musikalisch unterrichtete. Von da an war sie regelmäßig im Auftrag für den Hof tätig. Ihr erstes eigenes Bühnenwerk, La stiava, bei dem es sich um ein musikalisch in Szene gesetztes Turnier mit Text von Michelangelo dem Jüngeren handelte, wurde 1607, als sie gerade erst volljährig geworden war, zum Florentiner Karneval aufgeführt. Es folgte 1614 Il passatempo, ein noch größer angelegtes Bühnenwerk aus der Feder dieses Dichters mit Musik von Francesca Caccini. Im Gegensatz zu Giulio Caccini machte Francesca in der Ausgestaltung der eigenen Werke später ausgiebigen Gebrauch von verkürzten Trillern oder Tremoli in der Gesangsstimme. Auffällig ist dabei, dass sie meist bei den kürzeren Notenwerten, nämlich den Achtel- oder Viertelnoten, auftreten. Die Kadenzen in der Tonika sollten aller Wahrscheinlichkeit nach durch den Ausführenden mit tremolierender Stimme gestaltet werden.

Bereits im Sommer des Jahres 1614 muss Caccini ihre dreibändige, leider verschollene Sammlung von 300 Vokalstücken, die reich an ornamentalen Diminutionen gewesen sein sollen, aus der Hand gelegt haben. Mit einer Ausnahme stehen alle zehn Canzonetten als Schlussteil des Buches im Dreiertakt und erscheinen in strikt strophischer Form. Die Form war im Italien des frühen siebzehnten Jahrhunderts außerordentlich beliebt: Zwischen 1580 und 1650 wurden hier allein 250 Sammlungen veröffentlicht. Die Canzonetta ist in der Tradition des Volkslieds gehalten, was der synkopierte Rhythmus und die Form der Gitarrenbegleitung zum Beispiel im Falle von „Chi desia di saper che cosa è Amore“ deutlich machen. Diese Behandlung widerspricht insofern der Tradition der Canzone, als die eigentliche altitalienische Variante, die überwiegend auf Petrarca zurückgeführt wird, als musikalischer Bestandteil des höfischen Festes galt und somit die Verwendung populärer Weisen ursprünglich ausgeschlossen war. Gary Tomlinson stellte in seiner Anthologie von Monodien des frühen 17. Jahrhunderts bereits fest, dass alle anderen in Francesca Caccinis Sammlung auftauchenden Formen freier gehalten sind als die regelrechten Arien und Canzonetten. Wiesen diese zunächst gemischt homophone und polyphone Texturen auf, die sich durch klare Phrasentrennung und markante Motivik vom Madrigal abhoben, so kam nun als stilistische Neuerung die Beschränkung auf Solostimme und Basso continuo hinzu; die Canzonetta wurde zum Bestandteil der Oper oder galt weiterhin als eigenständiges kammermusikalisches Stück. Die Menge der von Caccini komponierten Kammermonodien sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich ihr Schaffen nach der Zeit der „Studien“ 1618 und 1629 unter dem Titel Le risonanti sfere da velocissimi ingegni armonicamente raggiate und der späteren einzeln erschienenen Canzonette (1621), welche wohl aus der eigenen Gesangspraxis hervorgegangen sind, auf die Entwicklung des Dramma per musica auf dem Weg zur „ordentlichen“ Oper konzentrieren sollten.

Aus heutiger Sicht dürfte es nicht überraschen, dass sie in ihrer ersten Oper, La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina (1625) von Ferdinando Saracinelli, der eine Episode aus Ariostos Orlando furioso als literarische Quelle zugrundelag, die Handlung aus der Perspektive der weiblichen Figuren entwickelt. Es sollte aber nicht vergessen werden, dass es sich um das erste Musikdrama aus der Hand einer Frau handelt, das sich einem Auftrag der Regentin Maria Magdalena von Österreich verdankt. Das Libretto verabschiedet sich mit der bisher nicht gesellschaftsfähigen Handlung vom heroischen Ideal und der in der Renaissance gebräuchlichen Verwendung von Motiven aus der klassischen römisch-griechischen Mythologie. Die Oper kam anlässlich des Besuchs des Besuchs des polnischen Prinzen Waclaw in der Medici-Villa Poggio Imperiale zur Aufführung. Caccini bediente sich zur Charakterisierung der männlichen und weiblichen Parts kontrastierender Harmonien und Tonarten. In der Forschung wurde erwogen, dass es sich dabei um ein politisches Programm gehandelt haben könnte, mit dem sie den Herrschaftsanspruch ihrer Gönnerinnen, der Christine von Lothringen und Maria Magdalenas von Österreich, gestützt haben könnte. Ihr Einfluss in Kunstfragen am Hof der Medici war so rasch gewachsen, dass sie dazu beitragen konnte, die Aufführung von Peris Oper Iole ed Ercole zwischen 1604 und 1625 zu verhindern. Der Sachverhalt macht deutlich, dass Caccini in unmittelbarer Konkurrenz zum Schöpfer der ersten eigentlichen Oper, Euridice, stand. Im Hinblick auf die repräsentative Symbolgebung in den Künsten der Barockzeit wäre dies in der Tat naheliegend. Schließlich gehörte sie schon bald nach der Bewilligung einer festen Stelle durch den Großherzog Ferdinando de Medici zu den besten Sängerinnen ihrer Zeit, die sich, wie ja von Monteverdi überliefert, ebenso auf der Laute und der Gitarre wie am Cembalo begleiten konnte. Am Ende ihrer ersten Schaffensperiode komponierte sie eine zweite Oper, Rinaldo innamorato (1625), die bis auf eine Arie, „Ch’io sia fidele“ leider verschollen ist wie auch der Name des Librettisten bis heute nicht ermittelt werden konnte. In dem 1614 veröffentlichten Fragment Il passatempo erweist sich Caccini mehr als Vertreterin des humoristischen Fachs, indem sie in Umkehrung der gegebenen Verhältnisse in der Pastourelle den aktiven Handlungspart der Schafhirtin zuerkennt, während der sonst im perspektivischen Mittelpunkt stehende Schafhirte zum verblüfften Objekt wird.

Nach dem Tod ihres Gatten Giovanni Battista Signorini im Jahr 1626, eines weit weniger bedeutenden Hofmusikers, zog sie sich aus der Tätigkeit für den Hof zurück. 1627 heiratete sie einen Edelmann aus Lucca, Tommaso Raffaelli, und trat bald darauf in die Dienste Vincenzo Buonvisis ein, des vormaligen Abgesandten Luccas in Florenz. Aus dieser Ehe stammte den Quellen nach zumindest ein eigener Sohn. Nach Raffaellis Tod 1630 kehrte Francesca Caccini in ihre Heimatstadt Florenz zurück, wo sie wenigstens von 1634 bis 1637 von ihrer Auftraggeberin Christina von Lothringen und darüber hinaus von der Großherzogin Vittoria della Rovere mit einem ordentlichen Gehalt bezahlt wurde. Sie wirkte als Gesangslehrerin weiter und komponierte Bühnenwerke, die aber – ebenso wie zahlreiche andere Kompositionen – nicht überliefert sind. Vermutlich handelt es sich bei der 1640 verstorbenen Francesca Caccini, der Frau eines Senators, der danach wohl ihr dritter Ehemann war, um die Komponistin.
Wie Vincenzo Calestani (1589 – 1617), der seine Madrigale ebenfalls einer namhaften Sängerin, nämlich Isabella Mastiani Malespini, gewidmet hatte, war die Virtuosin Caccini fortwährend für den Hof der Medici tätig. Im Florenz der Jahre ab 1620 zeichnete sich indes bei der höfischen wie städtischen Gesellschaft eine Tendenz zur religiösen Bigotterie ab. Die Beliebtheit der weltlichen Musik nahm deutlich zu, verlor aber ihren Ausnahmecharakter, der noch Caccinis erste Sammlungen ausgezeichnet hatte. Es ist in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen worden, dass mit Ausnahme der zwei Ariensammlungen von Girolamo Frescobaldi im Zuge von dessen Zerwürfnis mit seinen römischen Auftraggebern für die kommenden fünfzig Jahre so gut wie keine weltlichen Liederbücher mehr entstanden sind. Florenz als Wiege der Oper und erste Heimstatt der „nuove musiche“, wo in diesen Jahren das Hofleben in einen langen Karneval auszuarten schien, verlor seinen musikalischen Rang. Zwischen 1620 und 1630 avancierte vielmehr Venedig zum Zentrum des italienischen Kunstliedes.

Bezieht man Francesca Caccinis theoretische Aussagen in die Gesamtbetrachtung ihres Werks ein, so lässt sich ihre Eigenart mit der Forderung nach einer „gewissen edlen Vernachlässigung des Gesanges“ charakterisieren, wie sie sich zum Ende des Jahrhunderts in der protestantischen Kirchenmusik durchzusetzen begann: Rhythmus und Tempo sollten demnach sehr frei und vor Allem dem Text entsprechend gestaltet werden. An Caccinis persönlicher Kompositionsweise lässt sich ein Hang zur hochvirtuosen Verzierungskunst feststellen, die üblicherweise der Improvisation überlassen war, aber wenigstens teilweise ausgeschrieben wurde. Doch sind die meisten Stücke, wenn man von den Verzierungen absieht, im Verhältnis zu zeitgenössischen Madrigalen und Arien anderer Tonsetzer eher schlicht gehalten. Diese Tendenz lässt sich auch an der bevorzugten Verwendung der Romanesca ablesen, einem traditionellen, originär volkstümlichen Melodiemodell aus Rom und seiner unmittelbaren Umgebung. In ihrer alten, sowohl vokalen als auch instrumentalen Form weist sie neben einem geraden Takt und einem kontrapunktisch behandelten Ostinato-Bass in der Begleitung spezifischen Intervallfolgen wie das wiederholte Absteigen im Rahmen einer Quarte, das in Spanien einer ländlichen Melodie, nämlich dem Lied „Guárdame las vacas“ zugeschrieben wurde, auf. Allerdings verschiebt sich der Schwerpunkt Anfang des 17. Jahrhunderts zu Gunsten der vokalen Ausprägung auf die arie da cantar, die sich bei Caccinis Zeitgenossen Sigismondo d’India zu einer Art von monodischem Madrigal ausbildete. In der gleichen Weise komponierte sie auch Giulio Caccini in seiner Sammlung Nuove musiche e nuova maniera di scriverle von 1614. Von der in Lautentabulatur vorliegenden Variante der Aria di ballo, die Ende des 16. Jahrhunderts noch gepflegt worden war, macht Francesca Caccini in ihren Beispielen für die Romanesca offenbar keinen Gebrauch. Vielmehr folgt sie der ländlich-bukolischen Thematik im Sinne der spanischen Romanesca nach der Art von Alonso Mudarras Tres libros de música en cifras para vihuela (1546), so mit dem Lied „Io veggio i campi verdeggiar fecondi“.
Wurde auch die Aufzeichnung von Werken Caccinis im internationalen Musikbetrieb lange tiefmütterlich betrieben, erfuhren sie eine gewisse Wiedererweckung in der Klaviermusik des späten 20. Jahrhunderts. Die Brüsseler Preisträgerin und Londoner Akademiedozentin Yolande Uyttenhove (1925-2000) vollendete 1996 ihr etwa zwölfminütiges Stück Le Tombeau de Francesca Caccini, op. 180, und initiierte damit eine späte Ehrung für die von einer männlich dominierten Welt des musikalischen Abendlandes vernachlässigte Virtuosin, die damit zumindest in der musikalischen Rezeption der Vergessenheit entrissen worden ist. Ihre Werke sind in den vergangenen Jahren häufiger eingespielt worden, allerdings gibt es auch hier noch zu füllende Lücken.
Ausgaben
R. J. Alexander; Richard Savino (Hgg.): Francesca Caccinis Il primo libro delle musiche of 1618. Bloomington, Indianapolis 2004.
Gary Tomlinson (Hg.): Italian Secular Song 1606 – 1636. Volume I. Florence. New York und London 1986.
Einspielungen
Chi nel fior. In: Ruggiero im Aufbruch. Musik des italienischen Frühbarock. Ensemble Movimento.
La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina. Huelgas Ensemble. Paul van Nevel.
Lasciatemi qui solo u.a. In: Komponistinnen des 17. Jahrhunderts. La Villanella Basel.
Se muove u.a. In: I Canti d’Euterpe (16./ 17. Jahrhundert). Ensemble Laus Contentus. .