Der Anteil der seit dem 19. Jahrhundert aus Italien Ausgewanderten und ihrer Nachkommen in Brasilien beträgt heute immerhin 15 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes, wobei durch die Orientierung der italienischen Regierung von der Landwirtschaft weg seit mehr als 50 Jahren die Auswanderung von dort deutlich abebbte. Sohn eines Einwanderers um 1900 war übrigens der nach dem Zweiten Weltkrieg sehr populär gewordene Komponist Mozart Camargo Guarnieri (1907 – 1993), der zunächst, ab 1923, in São Paulo und 1938 auch in Paris bei Charles Koechlin studierte. Sein 20. Todestag jährt sich in diesem Jahr.

Vielleicht später als andere namhaft gewordene Musiker erhielt er im Alter von zehn Jahren Klavierunterricht bei Virginio Dias. Zu seinen Studienfächern kamen in São Paulo neben der weiteren Klavierausbildung Komposition bei Mario de Andrade. und Dirigieren mit Lamberto Baldi. De Andrade führte ihn in die brasilianische Folklore ein, die sein Schaffen später deutlich prägte. Das Studium bei Koechlin war dank der Auszeichnung für seine Komposition Flor de Tremembé möglich geworden. In Paris vertiefte er seine Kenntnisse auch in Kontrapunkt und Musikästhetik und nahm außerdem Stunden bei Nadia Boulanger. In den 1940er Jahren hielt er sich mehrfach in den USA auf, wo er seine Werke aufführte.
In dieser Zeit entstand auch seine 1. Symphonie (1943), bei deren länger vorhergehender Konzeption er darauf achtete, das choreographische Final-Allegro zu vermeiden und stattdessen unter der Benennung Radioso eine prägnante Melodie ohne grundsätzliche Synkopierung einzusetzen. Dieser Schlusssatz ist durch seine binäre Thematik und die Sonatenhauptsatzform gekennzeichnet. In New York konnte er das Werk mit der Satzfolge Rude – Profundo – Radioso abschließen, passte es für Brasilien aber den Bestimmungen des Wettbewerbs Luis Roberto Penteado de Rezende an, da es so als Komposition mit dem 1. Preis den Anforderungen an die Verwendung unverwechselbarer Landesthemen entsprechen konnte. Typisch für Guarnieris Orchesterwerk, auch für seine 4. Symphonie (1963), mit der er lange kämpfte und die John Neschling mit dem Symphonieorchester von São Paulo 2002 eingespielt hat (BIS-CD-1290), ist ein manchmal schroffer Wechsel der Themenverarbeitung, der Instrumentation im jeweils folgenden Abschnitt eines Satzes und der Dynamik. Ebenso farbenreich wie harmonisch vielfältig – so lässt sich wohl das gesamte Orchesterwerk des Brasilianers charakterisieren.
Guarnieri scheint übrigens die Zwölftontechnik – zumindest in ihrer Praxis in Brasilien – nicht sonderlich geschätzt zu haben, was sein Offener Brief an die Musiker und Kritiker Brasiliens von 1950 deutlich macht, womit er in seiner Heimat für Diskussionsstoff sorgte. 1960 wurde Guarnieri zum Direktor des Conservatório Dramático e Musical in São Paulo, an dem er selbst studiert hatte, ernannt. Zudem unterrichtete er an der Universität von São Paulo und begründete dort 1975 das Hochschulorchester. 1992 erhielt er den Gabriela-Mistral-Preis durch die Organisation Amerikanischer Staaten und durfte den Titel „Größter zeitgenössischer Komponist der drei Amerikas“ führen.
Schreibe einen Kommentar