Durch eine von männlichen Netzwerken dominierten Domäne wie derjenigen der öffentlichen Kunstmusik suchte sie sich ihren eigenen Weg zu bahnen und erwies sich auch als durchsetzungsfähig. Als sie den Versuch unternahm, Dirigentin eines großen Symphonieorchesters zu werden, scheiterte sie an den Vorbehalten gegenüber eine Frau am Pult: Es galt auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch als ungehörig, wenn eine Frau den Taktstock erheben wollte.


Ruth Gipps, Tochter eines britischen Geigers und einer schweizerischen Pianistin, ließ sich aber nicht beirren, war schließlich die erste Dirigentin einer eigenen Symphonie Im BBC und gründete kurzerhand 1955 und 1961 zwei eigene Orchester, zuerst das London Repertoire Orchestra für Nachwuchsmusiker, dann das Chanticleer Orchestra, mit dem sie sich der Aufführung von Werken lebender aktiver Komponisten widmete, wiewohl sie selbst den ästhetischen Wandel, der insbesondere von der Schule Arnold Schönbergs ausgegangen war, nicht teilen wollte, sondern in einem spät- und postromantischen Stil weiterkomponierte.
Neben den fünf über mehrere Dekaden entstandenen Symphonien, die sie als ihre Hauptwerk betrachtete, schuf Gipps neben dem Genre nach vielseitige Klavier-, Kammer- und Vokalmusik auch mehrere Orchesterwerke programmatischer Natur wie 1941 die Jane Grey Fantasy über Kronprätendentin und Kurzzeitkönigin im 16, Jahrhundert für solistisch eingesetzte Viola, The Chinese Cabinet (1945) für großes Symphonieorchester, die Festouvertüre The Rainbow (1954), Leviathan (1969) für Fagott und Kammerorchester und Ambarvalia (1988) für kleines Orchester. Insbesondere bemerkenswert ist, dass sie trotz nach ihrem Studium bereits früh einsetzenden Aktivitäten als konzertierende Pianistin, Oboistin und Englisch-Hornistin sowie Dirigentin verschiedener Klangkörper „ihren“ Instrumenten kompositorisch keinen besonderen Vorrang zuerkannte. Ihr ging es letzten Endes darum, möglichst viele Genres und Instrumentenkombinationen zu erkunden und zu erproben.


Beim Label Chandos erscheinen nun nach und nach neue(st)e, qualitativ mustergültige Präsentation ihrer Werke auf Tonträger, worunter teilweise Weltersteinspielungen breit vertreten sind. Den Auftakt 2025 machte eine 2023 entstandene Aufnahme mit Coronation Procession (1953), Ambarvalia (1988), dem Hornkonzert (1968), Cringlemire Gardens (1952) und der 1. Symphonie f-Moll (1942); das BBC Philharmonic Orchestra spielt unter der Leitung des 1972 geborenen britischen Dirigenten Rumon Gamba, der sich bislang vor allem als Spezialist für die Aufführung britischer Filmmusik erwiesen hat.
Literatur u.v.a:
Lienhard, Daniel: Ruth Gipps: Die Vielseitigkeit in Person. In: Clingklong. Zeitschrift des FrauenMusikForumsSchweiz. Bd. 53. 2005. S. 24-27.
Olivier, Antje; Sevgi Braun: Komponistinnen aus 800 Jahren. Berlin 1996. S. 161-162.