Die Mystik und Melancholie ihrer Heimat Litauen kompositorisch zu erkunden ist Raminta Šerkšnytės besonderes Anliegen. Sie tut dies seit etlichen Jahren mit ungewöhnlichen Mitteln und bedient sich dabei sowohl aus Musik der westlichen als auch der östlichen Hemisphäre. Beim Komponieren ist die aus Kaunas stammende Musikerin, die vor der Ausbildung zur Dirigentin zunächst ein Klavierstudium absolviert hatte, bislang ihren ganz eigenen Weg gegangen und hat ein Tonsystem erfunden, in dem Dur und Moll fusioniert und damit ihrer Funktion beraubt sind. Möglichkeiten von Klängen werden experimentell „erprobt“, müssen aber „Seele“ haben, spirituell sein; eine Trennung von Tongeschlechtern erscheint dabei überflüssig. Auch in den asiatischen Musikkulturen gibt es ja andere Vorstellungen, wie sich Töne zu Klängen und Sequenzen organisieren lassen.


Stücke wie die Introduktion oder wenn man eine traditionelle Bezeichnung bevorzugt: Ouvertüre zu ihrem dreiteiligen Kantaten-Oratorium Songs of Sunset and Dawn zeugen von bewegter Dramatik, als ob Šerkšnytė damit die von starken unter der Atmosphäre stattfindenden kosmischen Prozesse mitabbilden wollte, die zur Trennung von Tag und Abend auf der Erde führen. Der erste Satz widmet sich Tag und Abend. Es handelt sich um einen breit gespannten Orchestersatz in umfangreich angelegter symphonischer Besetzung mit zusätzlichen Solistenstimmen und Chor wie das Konzertpublikum sie aus den Oratorien Haydns, Mendelssohns und zahlreicher Komponisten des 20. Jahrhunderts, etwa Tippetts, kennt. Die Vorgeschichte seit der Frühklassik ist der Komponistin offensichtlich bestens bewusst gewesen, aber sie hat aufgrund ihrer individuellen Satztechnik etwas völlig Eigenes aus dem Schöpfungsthema gemacht; die möglichen Vorbilder, zu denen vielleicht auch Holsts The Planets zu zählen wäre, sind nur noch formal präsent. Bei der Aufnahme mit zwei litauischen Orchestern reichen sich zwei litauische Dirigentinnen, Giedrė Šlekytė und Mirga Gražinytė-Tyla, die Hände. Letztere veröffentlichte unter anderem eine CD mit einer Hommage an Weinbergs symphonisches Schaffen, auf der sie als Dirigentin zu hören ist.
Eines der Konzerthäuser, auf die Šerkšnytės Werke sozusagen „gebucht“ waren und sind, ist das New Yorker Lincoln Center, wo die Philharmoniker der Weltstadt aus ihrem symphonischen Oeuvre spielten. Ebenso nahmen sich das Concertgebouw Orchestra Amsterdam, das Birmingham Symphony Orchestra dank der Initiative Mirga Gražinytė-Tylas, das Bayerische Rundfunk-Symphonie Orchester und die Berliner Philharmoniker ihrer Werke an.

Šerkšnytė schätzt vor allem das Schreiben für Vokalstimmen, was aus der Vielzahl ihrer Werke für einzelne Sänger und Chor zu ersehen ist, doch ebenso trug sie bisher zur solistischen instrumentalen Musik bei. Sowohl geistliche Programmatik als auch weltliche zeichnet ihre Werke für größere Besetzungen aus. Beide litauische Dirigentinnen schärften das Profil der einzelnen Kompositionen, auch eines De profundis und eines Mittsommer-Gesangs mit Eindringlichkeit und Intensität, so dass beim Hörer der Eindruck entsteht, die Eigenart aktueller litauischer Kunstmusik – vielleicht „spirituell“ – zu begreifen und zu verinnerlichen. Raminta Šerkšnytė arbeitet derzeit in Vilnius.