Auf den Zusammenschluss der Ukraine mit Transkarpatien hin wurde die Folklore desselben Landesteils „neu“ entdeckt. In jene Jahre nach 1945 fällt ein Abschnitt im Schaffen von Borys Ljatoshynskyj, der slawische Themen auch aus der karpatischen Region aufgriff und verarbeitete. Sein Einfluss war ebenso weitreichend wie etwa derjenige Sculthorpes auf die Entwicklung der australischen Musik. Aus seiner Schule gingen unter anderen die Komponisten Vladimir Huba, Walentyn Silvestrow und Vitalyj Hodziac’ky hervor.

Zur Zeit seines Aufwachsens war seine Geburtsstadt Schytomyr die Hauptstadt des damals zum russischen Kaiserreich zählenden Regierungsbezirks Wolhynien.
Der musikalische Ehrgeiz in der Lehrerfamilie sorgte dafür, dass Boris Mykolajowytsch Ljatoshynskyj sowohl ausgiebig Klavier- als auch Violinunterricht genoss. Ebenso verlief sein Studium, denn neben Jura studierte er in Kiew Komposition bei Reinhold Glière, mit dem ihn eine langdauernde Freundschaft verband, die dazu führte, dass er nach dem Tod seines Lehrers dessen unfertiges Konzert für Violine und Orchester op. 100 beendete.
Parallel zu einem Engagement am Moskauer Konservatorium ab 1940 war er bereits seit 1935 Professor für Komposition am Konservatorium zu Kiew, wo er seine später selbst international renommierte Schülerschaft ausbildete und selbst stark der romantischen Tradition Borodins und Tschaikowskys zuneigte. Zu dieser Zeit richtete er sich nach einer Phase der Rezeption atonaler Werke westeuropäischen Ursprungs wieder nach harmonisch konventionellerer Satztechnik aus und adaptierte karpatische ukrainische Volksliedmelodien.

Alexander Skrjabins „expressionistische“ Schreibweise hatte ihn jedoch nachhaltig beeinflusst und so fiel bei der sowjetischen Führung seine 1. Symphonie (1935/36) in Ungnade ebenso wie deren Kulturdiktat später Dmitri Schostakowitschs 4. Symphonie diskreditierte. Nicht zuletzt war es wohl Ljatoshinskyjs Versiertheit in verschiedenen Tonsprachen, die dem ebenso als Dozent wie als Komponisten engagierten Hochschullehrer inner- und außerhalb der Ukraine über mehrere Dekaden zu großer Bekanntheit verhalf. Auf dem Gebiet der Orchesterballade wurde er mit Grazhyna (1955), zum Gedenken an den polnischen romantisch-revolutionären Dichter Adam Mickiewicz populär. Seine Wiederentdeckung in den mittel- und westeuropäischen Ländern wurde nun durch eine Edition seines aus den genannten Gründen nahezu „chamäleontisch“ vielfältigen symphonischen Schaffens, das im Zyklus seiner Werke einen prominenten Platz einnimmt, auch breiten Hörerkreisen (hierzulande) möglich gemacht.

Symphonie Nr. 3
b-Moll „Frieden wird den Krieg erobern“ (1951; überarbeitet 1954/55)
Suite über ukrainische Volkslieder (aus dem Quartett von 1944)
Übersicht über Ljatoshinskyjs Werk
Literatur u.a.
Elena Zynkevych: Lyatoshynski and Kyiv school. In: Ukrainische Musik. 2013. S. 37 – 44.
Marianna D. Kopica: Die neuen quellenkundlichen Studien in der Ukraine im Spiegel des epistolaren Erbes von Reinhold Glier und Boris Lyatoschinski. In: Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa. Bd. 10. 2005. S. 79 – 84.