Im Wechselbad des 20. Jahrhunderts

An der Grenze der Ukraine zur Republik Moldau, inmitten der vom Fluss Dnister geprägten Großlandschaft Podolien liegt die Stadt Mohyliw-Podilskyj, die unter anderem den russischen Physiker Jewgeni Sawoiski, in deren Getto unter tausend anderen Gefangenen auch der jüdisch-deutsche Schriftsteller Edgard Hilsenrath überlebte; seine Erlebnisse dort verarbeitete dieser in seinem zunächst in den USA erschienenen Roman Night. In ganz anderer Weise, nämlich als Humorist, wirkte in Mohyliw der ukrainische Physik- und Chemielehrer Leonid Mossends, bekannt für seine Sonettdichtung The Zodiac.

Soeben erschienen beim Label Dux: eine große Auswahl aus dem bedeutenden symphonischen Werk Witold Maliszewskis, des ebenso in der Ukraine wie in der (heutigen) Slowakei und in Polen wirkenden einstigen Lehrers Witold Lutoslawskis (3 CDs, ASIN: ‎B0955HN5RF)

Kulturell war Mohyliw im 20. Jahrhundert also durch politische Wechselfälle gezeichnet, wofür die hier wohnenden und später prominenten Persönlichkeiten Zeugnis ablegen. Darunter auch der zu einem Teil aus polnischer Familie abstammende Musikpädagoge Witold Maliszewski (1873 – 1939), der bei Nicolaj Rimski-Korsakow studiert hatte und von 1925 – 1927 in Warschau die Musikschule Fryderyk Chopin leitete. Przemysław Neumann und das Oppelner Orchester
Józef Elsner haben nun eine Auswahl dreier großer Werke des im Westen praktisch vergessenen Komponisten vorgelegt. Seine Symphonien 1 und 3 aus den Jahren 1902 und 1905 werden ergänzt durch die markante, spätromantisch-expressionistische 4. Symphonie D-Dur, op. 21, mit der er 1923 die Wiedergewinnung seiner zweiten, nämlich polnischen Heimat feierte. Außerdem sind ein Scherzo und eine Ouvertüre zu Ehren Schuberts beigefügt, sowie die symphonischen Dichtungen Bajka und Legenda.

Aus einer spannenden Umbruchphase im Schaffen Martinus spielte Tomás Netopil fünf exemplarische Werke ein (Supraphon 2021, ASIN: ‎ B09BMBF872).

Populären Orchesterwerken Bohuslav Martinůs aus den hochproduktiven Jahren 1953 bis 1958, nämlich Overture, Les Fresques de Piero della Francesca, The Rock, The Parables und Estampes, widmete sich vor kurzem Tomás Netopil mit dem Prager Rundfunksymphonieorchester. Les Fresques entstand in Nizza nach Martinůs Rückkehr aus den USA, wo er unter anderem an der Princeton University unterrichtet hatte und fällt somit in die Phase, in der er sich – nach anfangs sehr eigenwilliger Ausrichtung auf der Basis tschechischer Folklore unter Einbezug von dissonanten Strukturen der Moderne – am Neoklassizismus ausrichtete und immer mehr Jazz-Elemente einbezog.

Bemerkenswert ist, dass sich genau in den Jahren, als die hier aufgenommenen mehr auf Motiven als auf Stoffen beruhenden symphonischen „Dichtungen“ in eine Zeit fallen, als sich in seinem Schaffen wiederum ein Stilwandel hin zur Verwendung diatonischer Muster ereignete. Von diesen wich Martinů in The Parables ab, weshalb es interessant ist, diese Orchesterwerke aus den 1950er Jahren hintereinander zu hören.

Drei der wichtigsten symphonischen Werke von Florence B. Price aus den Jahren 1932 bis 1940 vereint diese Kompilation mit dem Wiener ORF-Orchester (Naxos 2021, ASIN: B09FSCKLHB).

Die afroamerikanische Komponistin Florence Beatrice Price (1887 – 1953) vereint in ihrem Schaffen gleich mehrere Alleinstellungsmerkmale. Sie integrierte Klänge aus der afrikanischen Heimat ihrer Vorfahren und beschäftigte sich programmatisch eingehend mit der Problematik der Sklaverei, wie ihr Orchesterstück Ethiopia’s Shadow in America (1932) eindrücklich belegt. Sie bezog in den 3. Satz ihrer 3. Symphonie c-Moll einerseits Elemente des synkopierten traditionellen Gesangs der Juba ein, vermochte es aber ebenso schlüssig die Musiksprache kirchlicher Spirituals in symphonische Strukturen zu verwandeln, wofür beispielhaft The Mississippi River (1934) steht. Eine weitere Auswahl aus dem Schaffen einer ebenso kompromisslose wie einfühlsamen Musikschaffenden des 20. Jahrhunderts spielte am Anfang und Ende der schwierigen Lockdown-Zeit im Frühjahr 2020 und 2021 das Wiener ORF-Symphonieorchester unter Leitung des amerikanischen Dirigenten John Jeter, eines Experten für das Werk von Florence B. Price, ein.