Beethovens ferner Zeitgenosse – aufschreckend modern

Diese Chance hätten sicher die meisten Komponist(inn)en seit dem Aufstieg der westlichen Kunstmusik gerne genutzt: in ärmlichen Verhältnissen geboren in die Obhut eines wohlhabenden Oheims zu kommen und dessen Firmenerbe anzutreten. Vielleicht hätten sich aber nicht alle vom kompletten Verlust dieses Vermögens wieder aufgerappelt wie der 1781 im böhmischen Dorf Schönbüchel zur Welt gekommene Anton Philipp Heinrich, der unter amerikanisierten Vornamen in den USA zum originellsten Musikschaffenden vor dem Bürgerkrieg aufzurücken.

Das amerikanische Syracuse Symphony Orchestra spielt A. P. Heinrichs Orchesterwerk ‚The Ornithological Combat Of Kings‘ (Vinyl LP New World, 1978, ASIN: B076VMSB3V).

Anthony Philip Heinrichs Traum war die Musik, einem alten Klischee dem Tschechen bereits in die Wiege gelegt, und sie wurde ihm selbst in Umständen erneuter völliger Armut in Folge der Napoleonischen Kriege zum Rettungsanker. Nach Boston verschlagen fing er von Null wieder an und bildete sich zum Geiger und Dirigenten aus, schlug sich in einer abenteuerlichen Odyssee durch die (damalige) Wildnis Pennsylvanias und entlang der Linie des Ohio River nach Kentucky. In einer Waldhütte nahe Bardstown schuf er von 1818 an die wohl erstaunlichsten, von der wilden Natur um ihn ebenso wie von der Geschichte der Neuen Welt inspirierten musikalischen Werke. Sie sind von aufrüttelnder Modernität und noch weitaus progressiver als Beethovens gleichzeitig oder nicht lange zurückliegende Kompositionen. Als eine der ersten bedeutenden entstand The Dawning of Music in Kentucky, or the Pleasures of Harmony in the Solitudes of Nature – gedruckt zwei Jahre nach der Wahl des Einsiedlerdaseins in Philadelphia.

Anthony Philip Heinrich (1781 – 1861) kann als einer der ungewöhnlichsten Komponisten zwischen Klassik und Romantik gelten. (Library of Congress VIAF: 18157996 ·
GND: 124470300, US p.d.).

Kurz nach seiner Ansiedlung in Kentucky dirigierte Heinrich dort bereits Beethovens denkbar innovative 1. Symphonie, die zu diesem Zeitpunkt gerade einmal siebzehn Lenze zählte und in den Vereinigten Staaten wohl erst einmal zuvor aufgeführt worden war. Die Bandbreite der Programmmusik Anthony Heinrichs reichte im Laufe der nun folgenden Schaffensjahre vom Concerto grosso The Treaty of William Penn with the Indians (1834) mit The Ornithological Combat of Kings (1847) bis zum peruanischen Nationalsymbol des Andenkondors.

Im Vergleich zu anderen unfreiwillig oder gezwungenermaßen ausgewanderten europäischen Komponisten weist Heinrichs Werk eine deutliche individuell amerikanische Handschrift auf: Er zieht die motivische Exposition einer kompletten Entwicklung im Sinne des symphonischen Sonatenhauptsatzes vor, fügt schroff-chromatisches Passagenwerk ein, versucht auf expressive Weise dem imaginierten Gegenstand akustisch dramatischen Ausdruck zu verleihen.

Auch die Niagara-Fälle an der Grenze zu den USA inspirierten Anthony Philip Heinrich (Saffron Blaze, CC-Liz.).

Eine europäische „(Re-)Habilitation“ des bedeutenden, 1861 in New York – wiederum verarmt – verstorbenen Wahlamerikaners auch in kultureller Hinsicht steht noch immer aus, sollte aber unser Bild über musikalischen Fortschritt im Zeitalter der Wiener Klassik und der frühen Romantik auch im Beethoven-Jubiläumsjahr 2020 ein wenig zurechtrücken.

The War of the Elements and the thundering of Niagara (Capriccio grande)

frei verfügbarte Partituren Anthony Philip Heinrichs


Beitrag veröffentlicht

in

,

von