Sie wurde als eine der ersten Frauen in die Pariser Société des compositeurs aufgenommen und stand nun spätestens auf Augenhöhe mit den männlichen Kollegen. Die Rede ist von einer Schülerin Henri Herz‘, Marie Jaëll (1846 – 1925), die somit nicht das Schicksal ihrer gleichermaßen begabten Kolleginnen in Deutschland, etwa Clara Schumanns, vor allem aber Fanny Mendelssohn-Hensels, teilen musste: Letztere konnte sich ungeschriebenen Konventionen zufolge aus dem Dunstkreis des häuslichen Musizierens kaum herausbewegen und wurde auf die Gattungen Klavierlied und Kammermusik zurückverwiesen. Abgesehen davon, dass die berufliche Emanzipation der Frauen in Frankreich früher einsetzte als weiter östlich, hatte Jaëll insofern „Glück“, als sie zur rechten Zeit maßgebliche Vermittler an ihrer Seite wie ihren ehemaligen Dozenten Camille Saint-Saëns, der sie der Sozietät empfahl.

Die Pianistin stand darüber hinaus in Kontakt mit Gabriel Fauré und César Franck; später lernte sie auch Brahms und Rubinstein kennen. Im Jahr 1866 heiratete Marie Trautmann den Pianisten Alfred Jaëll, mit dem sie zudem das vierhändige Spiel verband, das sie selbst seit Jugendjahren favorisierte. Leider ist nicht viel über ihre (weitere) Ausbildung als Komponistin bekannt, aber die Zahl ihrer Werke steht männlichen schreibenden Musikerkollegen weder an Zahl noch an programmatischen Themen nach: Sie bereicherte sowohl die solistische Klavierliteratur, komponierte für kammermusikalische Besetzungen und für Orchester, etwa mit En route oder einem Cellokonzert (1882) und zeigte ein Faible für das Lied. Die meisten Werke entstanden im Zeitraum zwischen 1870 und 1899, als bedeutend kann auch noch ihr heimatbezogenes Harmonies d’Alsace für Orchester aus dem Jahr 1917 bezeichnet werden, danach scheint sie sich fast ausschließlich der Klavierpädagogik gewidmet zu haben.

Und das Unterrichten ist für sie ein Alleinstellungsmerkmal, das sie unter anderen Instrumentallehrern Europas hervorhebt: Sie zielte auf die Vereinigung des Körpers des Pianisten mit dem Instrument und betrieb psychophysiologische Forschungen, die sie mit dem Arzt Charles Féré teilte: Es interessierte sie die Bewegungsmöglichkeit der Hand und der richtige Einsatz der Muskelkraft und des Tastsinns beim Spiel und in seiner Vorbereitung. Wie war die Unabhängigkeit der Finger voneinander zu erreichen, welche war die richtige Sitzhaltung? Das Training der Hände eines Klavierspielers besteht der Physiologie gemäß sowohl in Gleit-, als auch Roll- und Drehbewegungen. Aus den Forschungen gingen elf methodische Handbücher hervor, die sich auch mit speziellen Unterthemen, etwa Le Mécanisme du toucher (1897) beschäftigten. Später leitete sie viele ihrer methodischen Überlegungen aus dem Anschlag und der Spielweise Franz Liszts ab, bei dem sie Unterricht nahm.

Eine Folge des vertieften Kontakts mit Liszt war, dass sie 1891 einen Zyklus von sechs Konzerten mit seinem Werk im Salle Pleyel gab, nachdem sie kurz zuvor einen ebenso langen zuvor bereits dem Klavieroeuvre Robert Schumanns im Salle Érard gewidmet hatte. In dieser Zeit gingen Konzertieren, Unterrichten und Komponieren noch miteinander her, seit 1900 galt ihre ganze Aufmerksamkeit dem Unterricht und seiner wissenschaftlichen Basis. Die sprichwörtlich gewordene Méthode Jaëll wurde von ihren Schülern, zu denen Albert Schweitzer, Blanche Selva und Jeanne Bosch van’s Gravemoer zählen, angenommen und weiterentwickelt. Bis heute profitiert die Klavierlehre weltweit von ihren damals neuartigen Forschungen. Man kann sich fragen, warum es solange dauerte, bis die Pianistin Cora Irsen als erste daranging, mit Unterstützung einer Stiftung, ihr gesamtes Klaviersolowerk einzuspielen, das seit 2017 auf Tonträger vorliegt. Das Außergewöhnliche von Jaëlls Stücken liegt nach Irsens Worten in der Unerwartbarkeit kommender Klänge und Verläufe.
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