Für Melodienscanner

Im 18. und 19. Jahrhundert entwickelte sich bei verspielten Naturen unter den Tonsetzern die Mode, eine einzige Oper gemeinsam zu gestalten, einem bunten musikalischen Gemüsesalat ähnlich, allerdings en détail planvoller konzipiert. Es wurde mit der italienischen Bezeichnung für die Zahl hundert – demnach Cento (oder Centone) – benannt, war der Idee nach aber nichts Neues, denn schon zuvor bildeten Pasticcio und Quodlibet solche Reihungen oder Mixturen originärer Schreibweisen ab, unabhängig von der Kontrafaktur, die ein wesentlich älteres „Entfremdungsverfahren“ darstellt und (in der Regel) nicht in einem Werk Entwürfe mehrerer Komponisten bzw. Textdichter vereint.

Bereits "vorgescannt": 3 bekannte amerikanische Kinderlieder unter dem Titel 'Childhood" nach Quodlibet-Art übereinander gelegt, aus dem Jahr 1893 (New York Public Library, resp. J.F. Tierney, US p.d.)
Bereits „vorgescannt“: 3 bekannte amerikanische Kinderlieder unter dem Titel ‚Childhood“ nach Quodlibet-Art übereinander gelegt, aus dem Jahr 1893 (New York Public Library, resp. J.F. Tierney, US p.d.)

Die Pasticci weisen zunächst aber eine durchaus schneller erstellbare Faktur auf, denn hier werden lediglich bereits kursierende und beliebte Arien und Ensemblestücke aus verschiedenen bekannten Opern „aneinandergeklebt“ oder satztechnisch miteinander verbunden. Die einzige zeitaufwändigere Bedingung für eine solche Kompilation war ein neues Libretto, das die musikalischen Teile natürlich dramaturgisch sinnvoll zusammenfügen musste. Eher ein reiner Zeitvertreib für eine müßiggängerische höfische und die wohlhabendere bürgerliche Gesellschaft also? Eine solche Bewertung würde den spielerischen Charakter des Ganzen verkennen, denn auch im Fernsehzeitalter des 20. Jahrhunderts liebte das breite Publikum Vergnügungen unter dem Motto „Erkennen Sie die Melodie?“ Gar nichts haben diese Sendungsformate freilich mit Kunstmusik kurz vor und in dieser Zeit zu tun: Für das Pasticcio Genesis des Rabbi Jacob Sonderling (1878 – 1964) wurden Komponisten wie Arnold Schönberg, Igor Strawinsky und Alexander Tansman gleichzeitig mit Beiträgen beauftragt.

In seinem Liederbuch von 1544 präsentiert Wolfgang Schmeltzl ein Beispiel für ein Quodlibet und beschreibt die Form in der Vorrede (www.aeiou.at, US p.d.).
In seinem Liederbuch von 1544 präsentiert Wolfgang Schmeltzl ein Beispiel für ein Quodlibet und beschreibt die Form in der Vorrede (www.aeiou.at, US p.d.).

Älteren Datums ist das Quodlibet, ein mehrstimmiges Stück parodistischen und nicht selten burlesken Charakters, das weniger geselligen Ursprungs ist, sondern einen Zeitvertreib von Gelehrten oder komponierenden Bastlern darstellte, mithin eine Art von Kreuzworträtsel oder Selbsttest der eigenen Kunstfertigkeit für diese darstellte (wenn nichts Wichtigeres zu erledigen war): Ein Titel wie Melchior Francks Musicalischer Grillenvertreiber (1622) spricht hierfür Bände … Melodiefetzen oder ganze Melodien wurden kontrapunktisch und dennoch zum Hören bestimmt zusammen verarbeitet. Ein früher Beleg hierfür ist das polyphone Quodlibet, das 1544 von Wolfgang Schmeltzl (1500/05 – 1564) vorgeführt und von diesem in seiner Vorrede beschrieben wurde; der Aspekt des Artifiziellen überwiegt hier aber noch vor dem humoristischen. Von der Mitte des 17. Jahrhunderts an sind Beispiele für KirchenQuodlibets überliefert.

Ein Quodlibet schuf der Rabbi J. Sonderling am Ende des 2. Weltkriegs (und des Holocaust) mit der Genesis Suite und Beiträgen von Schönberg, Shilkret, Milhaud, Strawinsky und anderen (Ltg. Gerard Schwarz, London Philharmonic Orchestra, 2005, Naxos 8.559442).
Ein Quodlibet ernsthaften Charakters schuf der Rabbi Jacob Sonderling am Ende des Zweiten Weltkriegs (und des Holocaust) mit seiner Genesis Suite und originalen Beiträgen von Schönberg, Shilkret, Milhaud, Strawinsky und anderen (Ltg. Gerard Schwarz, London Philharmonic Orchestra, 2005, Naxos 8.559442).

Im prototypischen „Idealfall“ erklingen Melodien unabhängiger Herkunft gleichzeitig, liegen also in der Partitur oder im Klaviersatz übereinander und sind so verzahnt. Ein zeitversetztes Abspielen erlaubt eine quasi imitatorische kanonische Technik. Ihre so entwickelten musikalischen Späße konnten sich die Komponisten gegenseitig zum Zweck des Erkennens zuschicken oder an Musik-„Experten“ zur Dechiffrierung weiterleiten …

Beispiele für rein instrumentale Quodlibets dieser Ausrichtung sind, wie Reinhard Amon anmerkt, jedoch selten anzutreffen; hier wäre einmal ein Capriccio von Johann Vierdanck aus dem Jahr 1641, nach J.S. Bachs Schlussstück der Goldberg-Variationen an prominenter Stelle W.A. Mozarts Gallimathias musicum KV 32 zu nennen. Solchen intellektuellen Schreibtisch(?)-Tüfteleien, selbst wenn sie nur spaßig gemeint waren, brachten die von Ideen der Aufklärung beseelte Empfindsamkeit und Frühklassik, vor allem aber die Romantik wenig Verständnis entgegen.

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