Nordisch erfrischend

Insgesamt wird dem nördlichsten Inselstaat Europas gegenüber der bewegten vulkanologischen eine sehr junge Geschichte der Musik nachgesagt, was für die meisten Stile außerhalb der traditionellen Folklore gelten mag. Dass letztere selbst in der progressivsten „avantgardistischen“ Ausrichtung noch ihre Spuren hinterlassen hat, darf angesichts der gerade auch im ländlichen Bereich starken Musikpflege – nicht nur, was Gesang, Fiddle- und Flötenspiel betrifft – nicht weiter verwundern. Allerdings ist damit nicht gesagt, dass das Repertoire entsprechend klein wäre, im Gegenteil: Die Pianistin Susanne Kessel musste bei ihrem Besuch staunen, welche Riesenmenge an Klavierliteratur in Reykjavík (und wohl auch andernorts) archiviert ist. Die langen Winternächte mögen bei aller Trivialität dieses Arguments in der Stadt über zwei Jahrhunderte die Produktivität der Komponisten außerdem beflügelt haben …

Anna Þorvaldsdóttir mit dem Preis des Nordischen Musikrats. Teile ihres Werks liegen auf den CDs Rhízôma (2011), Aerial (2014) und In the Light of Air (2015) vor (Helsingfors, Magnus Frdrberg 31.10.2012 CC-Liz. Dänemark).
Anna Þorvaldsdóttir mit dem Preis des Nordischen Musikrats. Teile ihres Werks liegen auf den CDs Rhízôma (2011), Aerial (2014) und In the Light of Air (2015) vor (Helsingfors, Magnus Frdrberg 31.10.2012 CC-Liz. Dänemark).

Zu den jüngeren Musikschaffenden zählt die 2012 mit dem Musikpreis des Nordischen Rats ausgezeichnete Violoncellistin Anna Þorvaldsdóttir, die schon mit 19 Jahren komponierte und außer in der Heimatstadt Reykjavík an der University of California in San Diego studierte, wo sie auch ihren Doktorhut holte. Sie richtet die Faktur ihrer überwiegend englisch betitelten Werke genau nach der jeweiligen Idee aus, was sich unter anderem in sehr heterogenen Besetzungen abbildet: Bezeichnenderweise wählte sie 2007 für Breathing ein Bläseroktett, für Shades of Silence (2012) eine insgesamt höher timbrierte Auswahl von nicht eben per se lautstarken Instrumenten, nämlich Violine, Viola, Cello und Cembalo. Und einen durchsichtig lichten Klangteppich erzeugen Harfe, Violine, Viola, Cello, Klavier, Perkussion und elektronisches Instrumentarium für In The Light of Air (2013/14). Zum Symphonieorchester mit seinem breiten Klangbild passen Dreaming (2008) und Aeriality (2011).

Beim Label Smekkleysa (in-Akustik) erschien Hugi Guðmundssons Album Djupsins Ro / Calm of the Deep (B00HEGOQIU, 2013).
Beim Label Smekkleysa (in-Akustik) erschien Hugi Gudmundssons Album Djupsins Ro / Calm of the Deep (B00HEGOQIU, 2013).

Der elektroakustischen Musik verschrieb sich Hugi Guðmundsson, wie Anna Þorvaldsdóttir Jahrgang 1977, nach einem Studium der Komposition auf Island und absolvierte einen Master of Sonology „abroad“ an der Universität von Den Haag. Dabei widmete er sich aber weiterhin der Musik für traditionelles Repertorium: So entstand im Auftrag des Motettenchors der Hallgrimskirkja 2004 Adoro te devote für Chor und vier Saxophone. Durch diesen preisträchtigen Erfolg mit dem Rascher Saxophone Quartet wurde es unter anderem von dem Ensemble Cantori New York und dem Prism Saxophone Quartet aufgegriffen.

In einem unkonventionellen Projekt erkundete die Pianistin Susanne Kessel vor einigen Jahren die Klaviermusik(szene) auf Island (B0017KVDB2 , Oehms Classics, 2008).
In einem unkonventionellen Projekt erkundete die Pianistin Susanne Kessel vor einigen Jahren die Klaviermusik(szene) auf Island (B0017KVDB2 , Oehms Classics, 2008).

Der mittlerweile in Kopenhagen lebende Komponist verschaffte sich in seinem Spezialfach spätestens mit Eq. IV: Windbells, das 2005 vom Caput Ensemble zum Anlass der World Expo 2005 aufgeführt wurde, Gehör. Als witziger Einfall, der jedoch kein Zufall war, kann die Hommage an Georg Friedrich Händel mit einer Komposition für ein Quintett aus Originalinstrumenten aus dessen Lebenszeit bezeichnet werden: Handelusive (2009) war Teil einer Initiative der European Broadcasting Union zu Ehren des Barockmeisters. Die akustische Folie zu dem amerikanisch-isländischen Film Autumn Lights (2016) schuf gleichfalls Hugi Guðmundsson.

Auf dem schmalen Grat zwischen Elektronik und aktueller Kammermusik  bewegen sich die Werke auf Daniel Bjarnasons CD Processions (Icelandic Symphony Orchestra, B0032DN36K, Bedroom Community 2010).
Auf dem schmalen Grat zwischen Elektronik und aktueller Kammermusik bewegen sich die Werke auf Daniel Bjarnasons CD Processions (Icelandic Symphony Orchestra, B0032DN36K, Bedroom Community 2010).

Mit dem zwei Jahre jüngeren Daníel Bjarnason verbindet diesen die Produktion eines Albums für Nordic Affect, auf dem die Komposition Apocrypha (2009) für elektronisch verstärkte Instrumente von Guðmundsson mit Bjarnason am Dirigentenpult zu hören ist. Dieser hatte zunächst in Reykjavík Klavier, Komposition und Dirigieren studiert und war anschließend nach Freiburg gezogen, um sich dort ganz dem Fach Orchesterleitung zu widmen. Zwischenzeitlich erhielt er zahlreiche Kompositionsaufträge von den Philharmonikern aus Los Angeles. Ihm wurde von Time Out New York bescheinigt, er habe ein neues Kapitel in der klassischen Kunstmusik aufgeschlagen. Dabei richtet er sich ähnlich wie Anna Þorvaldsdóttir, aber in anderer Weise gerade auch an der Natur(geräusch)kulisse seiner isländischen Heimat aus: Dafür steht etwa die kammermusikalische Komposition All Sounds To Silence Come (2007) ebenso wie Larkin Songs (2010), Sólaris (2011) und The Isle Is Full Of Noises (2012) für Chor und Orchester.

Allen drei  Musikkreativen gemeinsam ist, dass sie in einer noch jungen Karriere eine stattliche Anzahl von Studioproduktionen auf den Weg gebracht haben, was die Tatsache spiegelt, dass an zeitgemäßer Kunstmusik und auch Cross-Over in der Heimat Island, wo – wie in vielen anderen kolonisierten Gebieten der Welt – über Jahrhunderte nur Kirchenmusiker und Laien Choräle, Lieder und Orgelsätze komponierten, ein großes Interesse besteht und dass es nicht zuletzt auch darum geht, weltweit höhere Aufmerksamkeit für die Gegenwartskultur des nordischen „Outbacks“ zu erzielen.

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