Hören eigentlich hierzulande, europa- oder weltweit mehr Menschen online-gestreamte Klassik mit deutlicher Tendenz zur audiovisuellen Konzertwiedergabe, offline MP3 oder die physisch greifbare CD, wenn nicht sogar die noch konventionellere Vinylversion? Bei edierten Neuaufnahmen bleibt überwiegend nur die Wahl zwischen CD und MP3-Format. Dabei bleibt die .wav-Datei, wie sie von der CD repräsentiert wird, wenigstens bislang im privaten Bereich (gegenüber audioindustrieller Weiterentwicklung) der unangefochtene Sieger, wenn es um Stimmentrennschärfe, Tonqualität und Natürlichkeit auf dem Weg zur natürlich nie erreichbaren aufführungsidentitären Wiedergabe geht. Ob die Kategorie „Präsenzklang“, wie sie von nostalgisch gestimmten Verfechtern gerne mit allerlei Gründen Vinyl und Shellack zugeschrieben wird, nicht doch auch auf die laserabgetastete Technologiefolgerin anzuwenden ist, sollten Akustikexperten beurteilen.

Wie auch immer die Antwort zur oben gestellten Frage je nach Land und Kontinent ausfällt: Die Produzenten von Klassikaufnahmen haben sich auf die weiter in Richtung Virtualität verlaufende Entwicklung eingestellt, was aber derzeit noch nicht heißt, dass Ersteinspielungen aus einem bislang (annähernd) unbekannten Repertoire vor allem der kleineren spezialisierten Labels für die nähere Zukunft nicht doch zunächst auf das klassisch gewordene Medium CD geb(r)annt werden. Übergeht man einmal den in Deutschland groß gelandeten Coup der ersten Aufnahme mit Brahms‘ 3. und 4. Symphonie mit Thomas Hengelbrock und seinem lobenswerten Hamburger Orchester aus der neuen Elbphilharmonie bei Sony, so lassen sich wenigstens folgende Tendenzen festmachen:

Sieht man sich die natürlich nach Verkaufschancen und Vorbestellungen ermittelten „Top 100“ der Monate Januar und Februar 2017 genauer an, so beherrschen 17 Neuaufnahmen – wenig verwunderlich – mit romantischer Musik, vor allem aus den Bereichen Orchester, Klavier solo und Sopran-Highlights den „Markt“, dazu gehört nur die eine oder andere Opernneueinspielung. Als beliebteste Komponisten dominieren, was das 19. Jahrhundert angeht, wiederum Anton Bruckner und Sergej Rachmaninoff mit mehr als einer Novität. Mischgenres, etwa Klassik mit Jazz, orchesterbegleitete Liedermacher oder Aktualisierungen Alter Musik rangieren an zweiter Stelle noch vor den erstaunlich gut repräsentierten „Avantgarden“ des 20. Jahrhunderts.

Auf Platz 4 landet mit 10 CDs bzw. MP3-Alben die Barockmusik im eigentlichen Sinn, wobei mit Bologna 1666 – einer Aufnahme des Kammerorchesters Basel – auch ihrer früheren Tage gedacht wird. Dahinter liegen mit lediglich 8 Neuaufnahmen Mannheimer Schule (Franz Xaver Richter) und Wiener Klassik, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Mozart. Filmmusik liegt auf Platz 7, ins Hintertreffen geraten in dieser Saison Mittelalter und Renaissance, wobei hier von geglückten Repertoire-„Rettungen“ gesprochen werden kann. Schlusslicht bildet World Music mit kunstmusikalischer Basis, derzeit offenbar eine seltener gefragte Spezies. Und Daniel Hope hat sich (nicht zum ersten Mal) auf ein sehr weitgespanntes Programm von der Wende zum 18. Jahrhundert bis ins 20. hinein eingelassen: Serviert wird hier violinkonzertante Musik von Vivaldi über Schumann und Tschaikowsky bis Kurt Weill.

Nicht an letzter Stelle hingegen sollten die mehr als nur fleißigen Bemühungen des Labels ECM um Kammermusik sowie Jazz der Gegenwart und des späte(ste)n 20. Jahrhunderts aufs Podest gestellt werden, denn immerhin handelt es sich um Wagnisse, bei denen mit einem durchschlagenden Erfolg zwar manchmal gerechnet werden kann, hauptsächlich aber mit Stammhörern und neugierigen jungen Musikern, die auch auf allerneueste Kompositionen gespannt sind. Als eigentlich große Überraschung dieser Tage darf man getrost Klavierwerke von Philip Glass, nämlich seine Études, mit dem isländischen Pianisten Víkingur Ólafsson bei der Deutschen Grammophon(B01MYNZRM5, 27.1.2017) bezeichnen.
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