Zur Darstellung mythologischer Inhalte muss ein Regisseur nicht zwingend ein großes Farbspektakel inszenieren, doch kommt es, wie das Erfurter Theater heute Nachmittag zeigte, auch auf die Hell-Dunkel-Kontraste an, gerade wenn der Stoff ins Abgründig- Tragische kippt. Dies ist bei GF Händels Oratorium Hercules – uraufgeführt in London 1745 – nämlich wie bei Dutzenden von Realisationen antikisierender Musikdramen der Zeit der Fall: Der dramatische Sturz des seiner Natur nach halbgöttlichen Heros, Herakles, Sohn der Alkmene aus dem Stamm des Alkaios und des Zeus, vollzieht sich durch die heimtückische Rache des Kentauren Nessos. Dieser hatte der Erzählung nach Herakles‘ Frau Deianeira zu vergewaltigen versucht, weshalb ihn ihr Gemahl tötete. Sterbend riet ihr Nessos, sein Blut als Liebeszauber aufzubewahren. Sie tränkte Herakles‘ Hemd mit dem Blut, in Wahrheit einem Gift, das ihm schwere Wunden und unerträgliche Schmerzen zufügte.

An dieser Stelle endet mehr oder minder der Händels Oratorium zugrunde liegende Text. Auf dem Scheiterhaufen erlebt der sterbende Herakles seine Apotheose in den Götterhimmel; Zeus Vater gibt ihm Hebe zur Gemahlin. Schon im Dämmerlicht der griechischen Antike, also vor dem Gebrauch der Schreibschrift, galt ein Held, zur Hälfte göttlichen oder aristokratischen Ursprungs, als fragile, verletzliche Figur, nicht erst seit Homers Achill und Odysseus oder Chrétien de Troyes‘ Yvain. Die „Fallhöhe“ macht seine Besonderheit aus, da Missgunst und Neid der Götter, aber auch anderer numinoser Wesen, verheerende Macht und Stärke entfalten kann, man denke nur an den bestraften Feuerbringer Prometheus, dem Aischylos eine Tragödie widmete. Die erste Gestaltung des Verrats an Herakles für das attische Theater kennen wir durch Sophokles‘ Drama Die Trachinierinnen, das 442 v. Chr. aufgeführt wurde.

Was aber war Bearbeitungen eines so fremdartig wirkenden Mythos in Literatur und Musik abzugewinnen? In Händels London dominierte in der Aufklärungsepoche, insbesondere von Anfang bis Mitte des 18. Jahrhunderts, der Diskurs der Tugenden und der Affektbeherrschung. Um diese geht es auch hier: Liebe, Mäßigung und Treue stehen Verrat, Eifersucht und Neid gegenüber, und wo jene Oberwasser bekommen, ist ein tragischer Ausgang wie in Händels exzeptionellem, da nicht-geistlichem Oratorium vorprogrammiert. In der Visualisierung und Ausdramatisierung eines Oratoriums bestand und besteht für Regisseure ein großer Reiz, aber auch eine Herausforderung. Die Lücken zu füllen, die der Text lässt, indem er etwa die Übergabe des giftdurchtränkten Gewands an Herakles nur verbalisiert, aber nicht zeigt, war in der Erfurter Inszenierung Aufgabe von Ester Ambrosino, die den roten Faden des Bühnendramas überwiegend in die Hände des Tanzensembles legte, weshalb hier die von Susanne Ogan mitbetreute Choreographie von besonderer Bedeutung war. Sie verstanden es zumal das Primat der barocken (Zeige-)Gestik in ihrem Verhältnis zur Agogik der musikalischen Faktur herauszuarbeiten.

Händel war nun ähnlich dem um exakt eine ganze Generation älteren Wahlflorentiner Alessandro Scarlatti weniger ein Meister der Vertikale als vielmehr der Horizontale: Den harmonischen Ausdrucksmöglichkeiten nach stehen seine Bühnenwerke in der seinerzeit sehr modernen, zum „Akkordstil“ neigenden Satzweise zwischen Geminiani und Pergolesi, sind aber, was die kontrapunktische Ausführung betrifft, deutlich sparsamer als bei diesen. Lediglich in den fugierten Abschnitten und in den pastoralartigen Zwischenspielen wechselt die Gangart von der übergewichtigen Homophonie zu einem polyphon durchgestalteten Bau. Dies trifft jedoch überwiegend auf die Betrachtung der instrumentalen Ausgestaltung zu.

Im Bereich des Vokalen tut sich eine gänzlich andere Welt auf: Gerade im Hercules entfaltet der in London bestbezahlte und handlungsfreieste Komponist seiner Zeit sein ganzes Können als Melodiker vom einfachen ländlichen Lied bis hin zur artistisch ausgezierten Kantilene. Genau hierin lag auch die besondere Kraft dieser Aufführung. Die amerikanische Sängerin Annie Kruger, in der Rolle des Dieners Lichas in verschiedenen Registern deklamierend, stach hier ebenso heraus wie Katja Bildt als Protagonistin Deianeira in den ariosen Einsätzen, letztere bewegend insbesondere ohne instrumentale Begleitung auf dem Schlusstableau. Makellos und scheinbar mühelos erstrahlten die markanten Stimmen von Siyabulela Ntlale als Herkules und von Won Whi Choi als dessen Sohn Hyllos.

Die Tänzer mit Veronica Bracaccini, Manuel Schuler und Martin Angiuli agierten mit Leidenschaft und Ausdrucksstärke. Nicht zuletzt verstand es Dirigent Samuel Bächli ohne jegliches Pathos in den vollstimmigen Passagen mit Trompeten und trotz des düsteren mythologischen Texts dem Orchesterklang Wärme zu verleihen. Klanglich berückend wirkten einmal mehr die Oboen und Fagotte, der Cembalopart steuerte in der rezitativischer Begleitung manch stimmige Verzierung bei.
Weitere Termine: 3.2.2017, 19.30 Uhr; 19.2.2017, 18.00 Uhr; 10.3.2017, 19.30 Uhr
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