Immer wieder kommt es vor, dass sich Musiker mit einer bemerkenswerten Erfahrung etwa als Instrumentalisten autodidaktisch zu Komponisten weiterentwickeln: An prominenter Stelle für diese Spezies wäre im Frankreich des 19. Jahrhunderts Hector Berlioz zu nennen. Kein Wunder, dass er für manchen zielstrebig und schulmäßig Gebildeten eine ideale Zielscheibe der Kritik abgab. Dementsprechend wurde zu Beginn seine Orchestermusik von vielen als regellos, chaotisch und wild empfunden. Ähnliches mochte zeitweilig für die in Linsmore im australischen Bundesland New South Wales geborene Musikpädagogin und Pianistin Lynette Lancini, vormals Pratten, gelten, die sich überwiegend im Selbststudium ihre technischen kompositorischen Fertigkeiten aneignete. Ohne eine schon vorhandene kreative Ideenwelt wäre es allerdings beim bloßen Handwerk geblieben. Ihr Werkkatalog geht aber quer durch die (klassischen) Genres und zeugt von Neugier auf verschiedene Formen und Satzmuster.

In letzter Zeit machte sie durch die Aufführung und Einspielung von Invocation of the Whole Living Body von sich reden. Dieses Projekt bildet einen wichtigen Punkt in der kontinuierlichen Entwicklung ihrer Musik, die in den 1990er Jahren thematisch auf die Balance von „Herz“ und „Kopf“, dann auch auf die Beachtung somatischer Vorgänge in Verbindung mit einem ganzheitlichen Lebenskonzept ausgerichtet war. Nicht ohne Grund arbeitet sie daher auch seit längerem als Aufmerksamkeitstrainerin. Ihr Ansatz ist kein völlig psychologischer, sondern beruht zu einem guten Teil auf Gene Gendlins Philosophie der Internalisierung und Fokussierung, deren Erkenntnisse einen Wechsel im Leben einer Persönlichkeit ermöglichen und erleichtern sollen.

Das um einen performativen Parameter zu ergänzende zweiphasige experimentelle Stück Invocation of the Whole Living Body von 2015 ist für Flöte, Violine, Vibraphon und Klavier gesetzt. Es kam im Zuge eines Konzertzyklus an Lancinis früherem Studienort, dem Konservatorium von Queensland, zur Aufführung. Die erste Phase bietet den Ausführenden die Möglichkeit, die Technik des Ein- und Ausatmens anzuwenden, während in der zweiten Phase das Spiel auf C-Dur-Basis frei dahinfließen kann. Mit Musica Soma hatte sich Lynette Lancini bereits thematisch dem weiblichen Körperzyklus zugewandt.

Eher typisch für die Arbeit von jungen Komponisten in Australien ist, dass Ihnen schon früh Konzertforen eröffnet werden: So profitierte Lancini in den 1990er Jahren aus der Zusammenarbeit mit dem Quintett Topology, aus dem 2003 der vierteilige Zyklus Centaur hervorging. Das Werk ist auf einer CD des Ensembles bei Serrated Records mit dem Titel Difference Engine zu hören. Zudem spielte nicht nur das Muses Trio Kompositionen von Lynette Lancini, sondern auch das Queensland Orchestra, 2005 etwa ihr Stück Overt Operation. Etliche Jahre zuvor, nämlich 1996, hatte bereits ihre so ganz andersartige vierzugminütige Märchenkammeroper FROG LOGIC dank der Übernahme durch die Staatsoper von Victoria und die Melbourne Theatre Company die Bühne des Musiktheaters gesehen.
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