Barocke „Jam Sessions“ – fast wie im Urlaub

Der Cuxhavener Konzertorganist und Dirigent Jürgen Sonnentheil bleibt mit seinem Ensemble „Das Neu-Eröffnete Orchestre“ auf dem Boden, auch wenn er des öfteren mit ungewöhnlichen Solo-Programmen auf Konzertreisen abhebt. Zum Köthener Herbst 2015 hatte der versierte Musiker zu einer Orgelmatinee eingeladen, unmittelbar an Bachs fürstlicher Wirkungsstätte Köthen, an der vor allem namhafte weltliche Werke wie die Brandenburgischen Konzerte entstanden.

„Standardwerke … habe ich nie im Konzert gespielt.“ Konzertorganist und Orchesterleiter Jürgen Sonnentheil an seiner Orgel in Cuxhaven (J. Sonnentheil, Archiv)
„Standardwerke … habe ich nie im Konzert gespielt.“ Konzertorganist und Orchesterleiter Jürgen Sonnentheil an seiner Orgel in Cuxhaven (J. Sonnentheil, Archiv)

Wie sind Sie in Köthen mit ihrem Konzert dem Geist des Ortes entgegengekommen?

Andreas Glöckner vom Leipziger Bach-Archiv, der sich leider vor einigen Wochen in den Ruhestand verabschiedete, hat mich zu diesem kleinen, aber sehr feinen Festival für Bach eingeladen und ich hatte vorgeschlagen, Bearbeitungen, die natürlich mit dem Komponisten zu tun haben, ins Programm aufzunehmen. In der Stadt- und Kathedralkirche St. Jakob steht eine der schönsten Ladegastorgeln aus dem Jahr 1872 und ich habe zwei Bearbeitungen von Max Reger aus Bachs Wohltemperiertem Clavier, Wilhelm Middelschultes Bearbeitung der Chaconne und von Max Reger ein originales Werk, sein Präludium und Fuge D-Dur op. 69 ausgesucht.

Sie haben unter anderem bei Marie-Claire Alain und Ton Koopman Ihr Orgelspiel perfektioniert. Was ist das Besondere, das Sie aus diesem Unterricht mitgenommen haben, etwas, das Sie bis heute prägt?

Das artikulatorisch instrumentale Spiel vermittelte mir insbesondere Ton Koopman, die Art der barocken Singweise und überhaupt die vokalen Ausdrucksmöglichkeiten lernte ich bei Hermann Max kennen, als ich im Studium gleichzeitig in der Rheinischen Kantorei mitsang. Meinen musikalischen Grundstein legte jedoch Hans Thamm im Windsbacher Knabenchor. Marie-Claire Alain öffnete mir in ihren Meisterkursen die Tore in die französische Orgelwelt und beeindruckte mich vor allem durch ihr souveränes Spiel, das vom Körper her immer entspannt wirkte. Weitaus mehr hat mich jedoch Guy Bovet in seinen Kursen in Romainmôtier geprägt und vor allem die nun schon jahrzehntelange Freundschaft mit ihm.

Mit dem "Wind surfen" ist eine Leidenschaft von Jürgen Sonnentheil nicht nur an der Orgel von St. Petri, sondern auch an manchen Stränden (J. Sonnentheil, Archiv).
Mit dem „Wind surfen“ ist eine Leidenschaft von Jürgen Sonnentheil nicht nur an der Orgel von St. Petri, sondern auch an manchen Stränden (J. Sonnentheil, Archiv).

Was hat Sie eigentlich aus Ihrer süddeutschen Heimat in den Norden Ostfrieslands verschlagen?

Der Weg ging ein wenig stufenweise. Erst nach Bayreuth an die Kirchenmusikschule, dann an die Hochschule in Köln bis zum A-Examen, gewohnt habe ich in Düsseldorf und dort auch mein Konzertexamen gemacht. Danach war die Stelle in Cuxhaven frei und ich wurde gewählt, wenn auch erst nach der Absage einer Bewerberin. Gehalten hat mich natürlich die symphonische Woehl-Orgel, die ich 1993 dort mit aus der Taufe heben konnte. Sozusagen mein drittes Kind … neben zwei Töchtern. Aber auch die Freiheiten, die mir meine Gemeinde von Anfang an gelassen hat, nicht nur in meiner kirchenmusikalischen Arbeit, sondern auch, dass ich genug Freiraum habe, als Konzertorganist zu reisen.

Welche Instrumente spielen Sie neben Ihrem Engagement für die Kirchenmusik?

Im Studium gab es natürlich die obligatorischen Zweitinstrumente, die man spielen musste und so hab ich es mit der Bratsche und Querflöte eine Zeitlang versucht. Sehr früh kam ich im Studium aber zum Cembalo und vor allem zum Clavichord. Bis vor einigen Jahren spielte ich diese beiden Instrumente auch immer wieder in Solokonzerten, heute konzentriere ich mich jedoch eher auf die Orgel. Für mich sind aber beide Instrumente wichtige Ratgeber, denn sie erziehen meine Finger auf das trefflichste, was natürlich auch für die Orgel relevant ist.

Im November 2015 waren Sie – um nur Beispiele zu nennen – an der Marktkirche in Wiesbaden und an St. Vincentius in Dinslaken zu hören, auch nächstes Jahr gibt es viele Einladungen und 2017 nach Rom. Stellen Sie das Programm immer nach Ihren persönlichen Vorlieben zusammen oder spielt der jeweilige Ort mit seinen eigenen Traditionen immer eine Rolle?

Meist kann ich das Programm ja selbst wählen, oder es gibt ein paar Wünsche der Veranstalter, die ich dann natürlich berücksichtige und kombiniere. Sehr gerne spiele ich unbekannte und absolut spezielle Werke wie die Etüden von Jeanne Demessieux und natürlich Musik von Wilhelm Middelschulte. Schon im Studium war es mir ein Graus, das zu studieren, was alle anderen auch gerade lernten, zum Beispiel Bruhns‘ e-Moll-Präludium. Es gibt sogenannte Standardwerke, im Sinne des buchstabengetreuen Unterrichts, die habe ich nie im Konzert gespielt oder studiert. Es interessierte mich einfach nicht, das zu spielen, was die anderen die ganze Zeit in Konzerten auf dem Programm hatten. Mit Viktor Lukas hatte ich zum Glück einen Professor, der das alles sehr geschickt gelenkt hat und eine fabelhafte Mischung für mich fand.

"Absolut entspannte Atmosphäre" herrscht in St. Petri bei den Orchester- und Chorproben - und sie überträgt sich auf die Konzerte selbst (J. Sonnentheil, Archiv).
„Absolut entspannte Atmosphäre“ herrscht in St. Petri bei den Orchester- und Chorproben – und sie überträgt sich auf die Konzerte selbst (J. Sonnentheil, Archiv).

Wie bringen Sie den Tango Ihres ehemaligen Lehrers Guy Bovet in die Kirche? Stößt das nicht auf Skepsis bei vielen in diesem Raum nun mal an geistliche Musik gewöhnten Besuchern?

Im Norden ist die Skepsis recht groß und je weiter nördlich, desto weniger verstehen die Menschen den Witz dieser Musik und die dazu gehörenden Geschichten. Guy Bovet hat mir diese Beobachtung neulich bestätigt und wir sind uns einig, dass man sie dann dort nicht mehr spielen sollte. Ansonsten finden die Menschen das fabelhaft und lachen herzlich über die Geschichten, die zu jedem Tango vorher gelesen werden. Man muss auch wissen, dass Guy Bovet im Vorwort sagt: „Es thut sich nun auf ein Buch von zwölf (aber wahrhaftig 13) ecclesiastischen Tangos, so da heisset, dass dieselbigen Tangos zur heiligen Kirchenmusik gehören.“ Das Schöne an diesen Stücken ist, dass man sie auch an einer historischen Orgel mit der kurzen Oktave spielen kann – was eine enorme Bereicherung der Programmmöglichkeiten darstellt.

Haben Sie neben Guy Bovet weitere Vorbilder?

Als Dirigent hat mich Günter Neidlinger, ein Schüler von Celibidache, sehr stark beeinflusst und mir gezeigt, dass das Verständnis für jeden einzelnen Orchesterspieler und seine künstlerische Aussage von enormer Wichtigkeit ist. Bei Viktor Lukas, meinem langjährigen Lehrer schon in Bayreuth und dann in Köln, lernte ich die großartigen Möglichkeiten kennen, als Kirchenmusiker und Konzertorganist ein doch freies Leben zu gestalten und natürlich habe ich enorm viel in seinem ausgezeichneten Unterricht gelernt. Immerhin war er auch Schüler von Marcel Dupré in Paris und mit dieser Zeit bestens vertraut.

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