Mendelssohns Gestik nachgespürt

Ein reines Programm aus deutschsprachigen Landen mag zwar manchem Konzertbesucher nicht gerade abwechslungsreich erscheinen, doch wurden dabei gestern am Theater Erfurt konträre Akzente gesetzt: die genial ausgeklügelte Zitat- und Allusionsküche Mahlers im zweiten Teil gegen vor allem für den Solopianisten „undankbare“, da technisch komplexe Orchesterwerke von Mozart und Mendelssohn. Eben das 1. Klavierkonzert in g-Moll op. 25 von Felix Mendelssohn-Bartholdy, das man heute nicht allzu oft im Konzertsaal hört, war zu Lebzeiten des Komponisten ein Renner und am Donnerstagabend für Ragna Schirmer Anlass, ihre besondere Detailfreudigkeit in den schnellen virtuosen Passagen unter Beweis zu stellen. Joana Mallwitz am Pult wirkte in ihrem beherrschten Sturm-und-Drang-Gestus geradezu als Inkarnation eines Dirigenten aus dem frühromantischen Leipziger Umfeld Mendelssohns, Schumanns und Gades.

Titelseite des etwa 1847 bei Breitkopf & Härtel gedruckten 1. Klavierkonzerts von Felix Mendelssohn-Bartholdy (5.1.2012, p.d.)
Titelseite des etwa 1847 bei Breitkopf & Härtel gedruckten 1. Klavierkonzerts von Felix Mendelssohn-Bartholdy (5.1.2012, p.d.)

Bei gleichzeitig ausbalanciertem Spiel des Philharmonischen Orchesters konnte die saal- und rangfüllende Zuhörerschaft das Mendelssohn-Konzert als mustergültigen Höhepunkt des Abends erleben – ohne zu sehr den Ruf eines Bravourstücks zu bestätigen, wie es Hector Berlioz zur Zeit seiner ersten Aufführungen verstand. Unter Ragna Schirmers Händen geriet auch Mozarts populäres Rondo für Klavier und Orchester in A-Dur trotz seiner Entstehung in den frühen Wiener Jahres des Komponisten als hochindividueller Prüfstein für die pianistische Kunst der klassischen Periode an sich. Die Bedeutung der Blasinstrumente mit der Doppelbesetzung von Oboe und Horn wurde in diesem mutmaßlichen Finale des Klavierkonzerts A-Dur KV 414 vom Orchester entsprechend markant herausgearbeitet. Ein auch in anderer Hinsicht ungewöhnliches Ereignis: Nicht allzu oft waren ja bislang im Konzertsaal Dirigenten- und Solistenpart – und noch dazu in einer so gelungenen Kooperation – ausschließlich von weiblicher Seite vertreten. Als Zugabe spielte Ragna Schirmer aus Bachs Goldberg-Variationen, für deren Einspielung sie vielfach prämiert worden war.

Auch am Donnerstag vor dem 4. Advent 2015 wieder ein Publikumsmagnet: das Erfurter Opernhaus (Andreas Praefcke, Mai 2008).
Auch am Donnerstag vor dem 4. Advent 2015 wieder ein Publikumsmagnet: das Erfurter Opernhaus (Andreas Praefcke, Mai 2008).

So waren es vor allem die Blechbläser, die in Mahlers ausladender 1. Symphonie „Der Titan“ von 1888 nach der Pause in perfekt poliertem Klang erglänzten. Die bewusste „unversöhnliche“ Reibung zwischen f-Moll und D-Dur korrespondiert mit der Gegensätzlichkeit der eingeführten Programme: Das Hereinbrechen des böhmischen Ländlers im zweiten Satz erscheint als deutlicher Kontrast zu den lyrischen „Naturlauten“, die der Komponist im Eingangssatz beschwört. Und die parodistische, wenn nicht gar satirisch gemeinte „Terzenmusik“ nach dem allseits bekannten Kanon Frère Jacques ließ schon die zeitgenössischen Mahler-„Kenner“ aufhorchen (und lachen), da sie die Ironie in seiner (grotesk überzeichneten) Zitation verstanden, während die Skeptiker ihrem Unwillen Ausdruck verliehen.

In der Interpretation durch Joana Mallwitz wurden die antithetischen Ideen, zu denen ja auch ein „Totenmarsch in Callot’s Manier“ nach E.T.A. Hoffmann beiträgt, in aller Eindeutigkeit voneinander getrennt. Der Gefahr einer plakativen oberflächlichen Deutung erlag sie dennoch nicht, das Orchester kostete den langen vierten Satz aus, ohne sich von den Kadenzen zu finaler Hast antreiben zu lassen.

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