Zum Ende des 19. Jahrhunderts schossen in Brasilien Orchester, Musikvereine, Institute für Militärmusik und vor allem Konservatorien geradezu aus dem Boden, so dass die Komponisten der grupo renovación mit dem Gründungsdatum 1929 ein breites Betätigungsfeld im öffentlichen Musikleben finden konnten. Dazu gehörte auch die Opposition gegen einen vorherrschenden spätromantischen Nationalstil und die „Kavalierstour“ nach Europa, wo viele der jungen Komponisten nach neuen Impulsen suchten. Radamés Gnattali, dessen Vater nach der Emigration von Italien nach Porto Alegre als Fagottist und Dirigent zu wirken begonnen hatte, nahm einen anderen Weg …

Durch Kontakte fand der schon früh im Geigenspiel, an Cavaquinho und Gitarre ausgebildete spätere Pianist als Stummfilmbegleiter in die Kinos und trat auch für Tanzorchester auf. Seine Orientierung als Komponist unterschied sich deutlich von anderen seiner Generation, sei es von dem zunächst traditionell ausgerichteten Heitor Villa-Lobos oder Vertretern der Avantgarde wie Jacobo Ficher: Gnattali suchte vielmehr Kunst- und Popularmusik zu verbinden. Die Produktion von Choros verband ihn mit deren unbestrittenem Meister, dem schwarzen Musiker Pixinguinha, der das Saxophon in der brasilianischen folkloristischen Musik etablierte – wie Gnattali dies für die heimische Karnevalsmusik leistete, in der er übrigens auch die Flöte verankerte. Viel mehr noch als das Studium im Instituto de Belas Artes seiner Heimatstadt wirkte sein Einsatz als Kinopianist in jüngeren Jahren weiter, denn in diesem Zuge komponierte er etliche Filmmusiken. Nach einer Zwischenstation in Rio de Janeiro gründete er in Porto Alegre zurück das Quartett Henrique Oswald. Er rief ebenso die Formation Camerata Carioca ins Leben.

Schließlich führten den in der Choro-Praxis vor allem im Hinblick auf die nachrückende Generation sehr einflussreichen Musiker seine Konzerte doch nach Europa, allerdings handelte es sich hierbei um temporäre Ausflüge. Denn ihn faszinierte neben seinem Engagement für die Kammermusik zu Hause auch das moderne Medium Schallplatte: Schon 1932 nahm er seine Choros Urbano und Espritado auf, musizierte für die Studios mit dem Gitarristen Raphael Rebello ebenso wie mit Elizeth Cardoso und beteiligte sich an der Programmgestaltung des 1936 begründeten Rádio Nacional.

Hing er in den 1930er Jahren einem neoromantischen Stil in Verbindung mit dem Jazz, dem er sich immer mehr zuwandte, an, so wurde er doch eigentlich wegen seiner Samba-Arrangements, in die er Instrumente des herkömmlichen Symphonieorchesters wie Streicher und Holzbläser übernahm, „berüchtigt“. Der Kritik von Pressevertretern und anderen Musikern setzte er sich auch durch die Einführung von Akkordeon, Marimba und Mandoline in klassische Konzertforen aus. Um 1970 herum wandte er sich wieder der etablierten Choro-Formation zu und schrieb für eine solche die Suite Retratos. Um sich heute einen Überblick über Radamés Gnattalis Orchestermusik zu verschaffen, sei hier die rare Einspielung des Orquestra de Cámara de Blumena aus dem Jahr 2003 empfohlen.
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