Vor dem geistigen Auge des Zuhörers entsteht das individuelle Profil einer Komposition und seines Urhebers in deutlichen Umrissen – wenn er nämlich Marc-André Hamelins Interpretationen folgt. Dabei versteht es der Pianist, gleich ob er Godowsky, Busoni oder Beethoven spielt, die verborgen liegenden Wesenszüge des jeweiligen Werks an die Oberfläche zu heben. Konträr zu einer nur vorlagengetreuen und musikantischen Wiedergabe geht es hier um die Schärfung eines Profils, bis das Gesicht eines Stücks mit seinen feingezeichneten Linien (und auch Falten) für das Gehör „sichtbar“ wird.

Nicht zuletzt die individuelle Arbeit an jedem Werk und dem Profil seines Schöpfers ist es, die das Spiel dieses frankokanadischen Ausnahmekünstler unverwechselbar gemacht – und ihm zahlreiche Preise eingebracht hat: Er erhielt 2008 bereits zum fünften Mal den Juno Award, den Australian Soundscape Award, den Echo Klassik Preis und den Internationalen Schallplattenpreis in Cannes. Marc-André Hamelin reizen gerade jene Werke, die den Pianisten vor fast unüberwindliche technische Schwierigkeiten stellen, wobei der Ehrendoktor der Laval-Universität Québec niemals vergisst, die musikalische Deutung und Ausdrucksnuancen herauszuarbeiten. Seine prämierten und verdienstvollen Aufnahmen sollten nicht übersehen lassen, dass er in erster Linie als Konzertpianist um die Welt reist.

Kurioserweise wählte Hamelin für die Aufführung seiner eigenen Kompositionen wie den 12 Etüden in allen Moll-Tonarten (im Rahmen eines Musikfestivals 2010) die meerumtoste Nordseestadt Husum, in der er sich auch ein Jahr später einstellte, um seine Variationen über ein Paganini-Thema zu Gehör zu bringen. Am 28. September wird der immer auch bescheiden auftretende Künstler in der Alten Oper Frankfurt Rachmaninoffs Rhapsodie (ebenso) auf ein Thema von Paganini und Liszts Totentanz-Zyklus spielen, nach Konzerten in Großbritannien, Kanada und den USA folgt im November in der Liederhalle Stuttgart ein Auftritt mit Debussys Images II und Schuberts Vier Impromptus sowie seiner eigenen neuen Komposition Pavane Variée von 2014. Außerdem wird er am 23. Dezember mit dem Rundfunksinfonieorchester Berlin unter Marek Janowski und Brahms‘ Klavierkonzert Nr. 2 in der Berliner Philharmonie zu hören sein.
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