Stilwandel und eigenständige Entwürfe

Dass Per Nørgårds Denken als Komponist anfänglich überwiegend von mathematischen Vorstellungen bestimmt war, verhinderte nicht, dass er bald Antworten auf zeitgenössische Stildominanzen fand, die aber ebenso eigenständig ausfielen wie seine Konzeptionen rund um die so benannte Unendlichkeitsreihe. Mit ihr verband er Spektralharmonik und auf dem Goldenen Schnitt beruhende Rhythmen zu einem System. Jede Stauchung und Streckung der Reihe ist mit dieser selbst oder ihrer Intervallspiegelung identisch, eine Gesetzlichkeit, die entfernt an barocke Fortspinnungsprinzipien ebenso erinnert wie an die Kompositionsregeln aus Arnold Schönbergs Zweiter Wiener Schule. Ein solches Vorgehen kann zwar als Entsprechung zu konstruktivistischer Musik im Anschluss an die Zwölftontechnik, serielle Kompositionen und elektronische Klangexperimente verstanden werden, gleichzeitig aber ist es ganz individualistisch und wurde seit den 1950er Jahren weitgehend unabhängig von Zeitmoden weiterentwickelt.

Gegensätzliches wird verbunden - gleichzeitig fällt die Entwicklung im Schaffen des dänischen Komponisten auf (dacapo records 2014, B00JR56M1K).
Gegensätzliches wird verbunden – gleichzeitig fällt die Entwicklung im Schaffen des dänischen Komponisten auf (dacapo records 2014, B00JR56M1K).

Auch die späteren Arbeiten des 1932 in Gentofte geborenen Komponisten zeugen von ganz selbständigen Ideen, wobei er vielleicht dank seiner „bodenständigeren“ Engagements als Filmkomponist, zum Beispiel von Babettes Fest (1987), die traditionelle Harmonik immer wieder in seine Entwürfe zu integrieren verstand – ohne sie je nur zu kopieren oder zu imitieren wie es in parodistischer Absicht der Neoklassizismus praktiziert hatte.  Die erste Symphonie, Sinfonia austera (1953-55), Nørgårds bis dahin längstes Orchesterwerk, steht unter dem Einfluss von Jean Sibelius und seiner Natursymbolik: Vor allem das Vogelruf-Motiv, ein Tapiola-Zitat, fällt auf. Mit dem Werk des nordischen „Verwandten“ hatte ihn sein dänischer Kollege Vagn Holmboe bekannt gemacht.

In der ebenfalls dreisätzigen achten Symphonie (2010-11) zeugt die harmonische Struktur eher von einer Versöhnung mit der Vergangenheit, auch wenn der Komponist seine persönlichen technischen Prozesse in der Strukturgebung an keiner Stelle vernachlässigt und die Handschrift der ersten durchscheint. Es lässt sich allerdings eine Bereicherung durch die spezifische Einbindung traditioneller Akkordik vor allem des 20. Jahrhunderts erkennen, die teils an die amerikanische Schule um Piston und Schuller erinnert. Doch vermittelt sich die Symphonie dem Hörer als leichter eingängig und gleichzeitig transparenter, ätherischer als die vorhergehenden, vor allem als völliger Kontrast zu der aggressiv-forsch angelegten siebenten aus dem Jahr 2006. Wie einige von diesen hatte auch Nørgård – nebenbei bemerkt – bei Nadia Boulanger in Paris studiert.

"Unendlichkeitsreihe" anschaulich dargestellt an einem Beispiel in G-Dur (Infinity 2008).
Nørgårds „Unendlichkeitsreihe“ anschaulich dargestellt an einem Beispiel in G-Dur (Infinity 2008).

Erstmals sind nun beide teils gegensätzliche, teils verwandte Symphonien auf einer im Juni erschienenen Hybrid SACD aus dem dänischen Mutterhaus dacapo records zu hören. Die Wiener Philharmoniker unter Sakari Oramo meistern die schwierige Aufgabe der Umsetzung beider Partituren bravourös und mit dem nötigen Respekt vor dem langen Weg des nicht nur in Europa einflussreichen skandinavischen Komponisten, der nicht immer gerade verläuft und mit weiteren Überraschungen aufwarten kann.

 

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