Reduktion auf das scheinbar Wesentliche: Das Stichwort geistert seit mehr als 15 Jahren durch den Blätterwald des öffentlichen Diskurses. Auch der italienische Verismo, prominent vertreten durch Verdi und Puccini, tendierte in besonderem Maße dazu, Stoffe der Weltliteratur stark auf eine bestimmte Lesart zu verkürzen, wenn auch nicht ihrem Sinngehalt zu entfremden.

Im Vergleich zwischen Abbé Prévosts Roman Histoire du Chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut aus dem Jahr 1731 und dem Textbuch des Autorenteams um Giuseppe Adami, Luigi Illica, Giulio Ricordi, Ruggero Leoncavallo, Puccini selbst und anderen wird dies besonders augenfällig.

Nicht alleine, dass die Jahre des Zusammenlebens Manon Lescauts mit dem spiel- und verschwendungssüchtigen Studenten Renato Des Grieux anders als in der Opernversion Massenets gänzlich aus dem Cours de récit ausgeblendet werden, vermittelt das reduzierte Libretto ohne ausreichende Vorinformation beim oberflächlichen Miterleben der Oper einen schiefen Eindruck, nach dem vorerst kein kritischer Blick auf den Umgang der Männerfiguren mit der einstigen Nonne Manon entsteht, sondern sie selbst als Verursacherin der tragischen Entwicklung hinstellt, als hätte sie selbstbewusst und alleine die Entscheidung zwischen dem Ausleben ihrer Liebe und dem materiell gesicherten Dasein im Wohlstand getroffen.

Die Erkenntnis, dass die von ihrem Ausgangspunkt her mittellose Frau in Wirklichkeit Opfer paternalistisch dominierter gesellschaftlicher Positionen und Interessen wird, vermag das auf Musikdramatik zugeschnittene Konzept nur schwach anzudeuten.
Dies schmälert keineswegs Puccinis spezifisch lyrisch bestimmte Umsetzung in Musik, die am Premierenabend im Erfurter Theater gestern prächtig zur Geltung kam, vor allem in der von Guy Montavons Inszenierung, die auch den ästhetischen Voraussetzungen des Uraufführungsjahrs 1893 gerecht zu werden sucht.

Romantizismus und Rausch sind zwei Schlagworte, die Oper in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts beschreiben können und beides wurde versucht anzudeuten. Im zweiten Akt wurde von Hank Irwin Kittel ein in schrillen Leuchtstabfarben erglänzendes Bühnenbild realisiert, um den Salon der Madame Lescaut – markant und durchsetzungsstark gesungen von der Amerikanerin Jessica Rose Cambio – in ihrem „goldenen Käfig“ darzustellen, aus dem heraus sie gezwungen wird, in das Exil nach Louisiana zu gehen. Abgesehen von den oft nur angespielten liedhaften Momenten in Manons Vokalpartien ereignet sich ein musikdramaturgisch schroffer und die Handlung vorantreibender Gestus, wie er besonders noch für die späten Opern Puccinis kennzeichnend ist.

Der Regie ebenso wie der balancierten musikalischen Leitung durch Myron Michailidis gelang es die Einheit des Theaterbetriebs als selbstverständliche an das begeisterte Publikum zu kommunizieren. Es setzte sich der Eindruck durch, dass an vorpandemische Zeiten bruchlos angeknüpft wurde: Namentlich Siyabulela Ntlale als Manons wohlhabender Bruder sowie Brett Sprague, Juri Batukov und Julian Freibott in den weiteren Rollen zählen seit langem zum Ensemble und konnten durchgehend stimmlich überzeugen, als hätte es eine (politisch) erzwungene Pause nie gegeben.