Ein rasanter Aufholprozess

Wie in den meisten europäischen Staaten gärte es nach Napoleons Machtstreich und seiner nicht aufgegangenen Expansionspolitik im Konzert der damals weiterhin, aber nicht mehr lange währenden Dominanz aristokratischer Dynastien. Wegen der übermächtigen und über Jahrhunderte rezipierten Chormusiktradition in Riga und weiteren lettischen Ballungszentren Mitte des 19. Jahrhunderts , die sich von der folkloristischen Daina-Praxis nicht ganz trennen lässt, schloss das Land in der Mitte des Baltikums erst spät zu gesamteuropäischen Entwicklungen auf.

Maßgebliche Ausbildungsstätte für angehende Dirigenten, Musiker und Komponisten – wie Andrejs Jurjāns – war in Europa neben dem Pariser und Leipziger das St. Petersburger Konservatorium (Florstein, 1.5.2013, CC-Liz.).

Der notwendige kulturelle und rasante Aufholprozess war ähnlich wie in Deutschland, Italien und den skandinavischen Ländern bedingt durch die nun nahezu vollständige Emanzipation des Bürgertums als mittelständische Stütze der Gesellschaft. Die Arbeit am musikalischen Werk verschob sich zunehmend von den Höfen in die Schreibstuben der Wohnungen, wodurch Protektion prekär wurde und etliche Komponisten auf allen möglichen Töpfen spielen mussten, um ihr Auskommen zu sichern. Chor- und Orchesterarrangements standen neben Stimm- und Klavierauszügen neben dem Hochschul- und Einzelunterricht am Instrument und häufig zusätzlich der Korrepetition unter der Ägide eines Pultmaestros.

Andrejs Jurjāns (1856 – 1922) war der lebende Auftakt und Anschluss Lettlands an das „moderne“ europäische Musikleben nach der Mitte des 19. Jahrhunderts (Musica Baltica).

In dieser Ära setzte sich ganz im Sinne eines nationalromantischen Aufbruchs auch der Organist und Waldhornist Andrejs Jurjāns durch und schuf erstmals eine unabhängige lettische Schule klassischen Zuschnitts. 1877 publizierte der wie die meisten Komponisten des östlichen ehemaligen Hanseraums am Petersburger Konservatorium ausgebildete ehemalige Chorsänger sein erstes Werk. Entsprechend den Strömungen in anderen osteuropäischen Ländern widmete er sich neben den schon lange zuvor etablierten Kantaten zunächst ganz der Anverwandlung von Volksliedern, insbesondere auch aus der Chortradition, in einen modernen, der Zeit nach Beethoven gemäßen Stil.

Welch große Rolle die folkloristische Chormusik in Lettland bis heute spielt und nicht nur in der Rezeption, zeigte eindrucksvoll etwa das Liedfestival von 2008 (Laitman Gütmane, 11.7.2008, CC-Liz.).

Erst seit den 1880er Jahren schrieb der Lette, der zwischenzeitlich  überwiegend im ukrainischen Kharkiv gelehrt hatte, überwiegend und mit großem Engagement symphonische Musik. Eine Suite Lettische Tänze entstand 1884, mit dem großen Chor- und Orchesterwerk Tēvijai („An das Vaterland“) knüpfte er thematisch gewissermaßen nahtlos an die nahezu gleichzeitig entstehenden symphonischen Dichtungen Smetanas und Dvořáks an. Stilistisch wurde Jurjāns außer von der lettischen und russischen Folklore durch Nikolaj Rimsky-Korsakoffs Musik beeinflusst.

Symphonisches Allegro (1880)

 


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