Die Orte für den Rückzug aus hektischen Großstadtszenarien sind heute in einem breiteren geographischen Rahmen situiert, doch zu Ende der 1920er Jahre taten es auch die österreichischen Alpen als exotisches Remedium für die Seele, vorzugsweise St. Wolfgang mit dem See, notfalls ebenso der Müggelsee vor der Haustür, vom Zentrum Berlins vergleichsweise nur einen Katzensprung entfernt. Zwischen den nördlichen und südlicheren Seenidyllen Mitteleuropas liegt der Rennsteig als Attraktion für den wanderfreudigen Bevölkerungsteil der (Weimarer) Republik, den der Chor mit einem vertrauten Lied am gestrigen Erfurter Theaterabend ausgiebig bedachte.

Unter immensem Aufwand hatte man am 8. Dezember 1830 im Großen Schauspielhaus Berlin die Uraufführung der als „Singspiel“ apostrophierten Operette, schon im folgenden Jahr war sie dem breiten Echo entsprechend am Stadttheater Erfurt zu sehen. Damit war ihr Siegeszug nicht beendet: Sowohl in London und Paris als auch New York kamen Produktionen auf die Bühnen. Filmversionen mit verändertem Arrangement, angereichert mit Schlagerelementen und Swing-Nummern, folgten bald nach dem Zweiten Weltkrieg, bis die Operette 1994 erstmals nur mit Kammerorchester ohne Chor inszeniert und so „entschlackt“ wurde.
Auf den Chor sowie ein alpenländischem Ambiente entgegenkommendes zusätzliches Instrumentarium, Kuhglocken und Zither, wurde in der neuen Erfurter Inszenierung mit dem Philharmonischen Orchester unter Samuel Bächli allerdings nicht verzichtet: Eine gewisse Opulenz wollte man dem Weißen Rössl mit Rücksicht auf seine durchaus triumphale Aufführungsgeschichte denn doch nicht nehmen: Dies bezeugen sowohl Ralph Neuberts, Miren Casados und Yuki Nishios musikalische Einstudierung als auch die Kostümausstattung Frauke Langers und die Choreographie von Jessica Krüger.

Ganz im Look der Sommerfrische taucht neben dem Berliner Unternehmer Wilhelm Giesecke inklusive seiner Tochter Ottilie am malerischen, eigentlich zum Zweck der Erholung prädestinierten Wolfgangsee Professor Hinzelmann mit dem lispelnden Töchterchen Klärchen auf. Die Liaisons nehmen ihren Lauf, als auch der geschniegelte Trikotagenhersteller Sigismund Sülzheimer in Erscheinung tritt. Zwischen ihm und Giesecke tobt ein Rechtsstreit wegen möglicher Produktpiraterie, den der als Dauergast im Hotel angemeldete Dr. Erich Siedler übernommen hat, nicht ahnend, dass er dort von beiden Herren in seinem Traumurlaub behelligt werden könnte …

Das Glück blüht dem anfänglich von sich eingenommenen Anwalt aber in Gestalt Ottilies, mit der ihn der gerissene Kellner Brandmeyer zusammenbringen möchte. Dieser macht seit langer Zeit der Wirtin Josepha den Hof. Am Ende kommen die Paare zueinander; Sigismund vermag auch Klärchen zu gewinnen.

Nur einen Tag nach dem Weltfrauentag 2019 mag manchem Zuschauer freilich die traditionelle Brautwerbung in Hans Müllers und Erik Charells einst modernen Libretto durchaus aufgefallen sein: Kellner Brandmeyer vermag es, seine Chefin Frau Vogelhuber vor sich auf die Knie zu zwingen und Herrn Sülzheimer schafft es nur mit allerlei Tricks, Klärchen für sich einzunehmen. Besonders überzeugte Alexander Voigt in der ariengesättigten Hauptrolle: Sein Liebeslied, das seit der Uraufführung zum Anlass der meisten Operetten-Medleys weltweit erklingt, erschien am gestrigen Abend vom Kitsch mancher Versionen zwischen den 1950ern und 1980ern gänzlich befreit.

Für die Partie von Kaiser Franz Joseph, der recht unvorhergesehen das Hotel zur Residenz wählt, ist die väterlich-freundliche, aber brummige Bassstimme Juri Batukovs vorzüglich geeignet, Sopranistin Leonor Amaral in der Doppelbesetzung als Fabrikantentochter Ottilie und Briefträgerin Kathi überraschte mit einer portugiesischen Zwischeneinlage, Carolin Blumert in der Rolle der schüchternen lispelnden Klara konnte das Publikum gleichermaßen für sich gewinnen.

So ging mit Guy Montavons und Samuel Bächlis Interpretation von Ralph Benatzkys Weißem Rössl die Karnevalszeit 2019 am Theater Erfurt noch einmal erfolgreich in die Verlängerung, ungetrübt selbst vom plötzlich einsetzenden Gewitterplatzregen kurz vor Beginn. Nicht vergessen wurde in der Version des Theaters Erfurt, dass den Libretti der Operette im kulturell vor 1930 bereits international orientierten Berlin gewisse konservative, wenn nicht provinzielle Züge eignen, die hier aufs Korn genommen werden.
Dasselbe gilt weit weniger für die Musik, denn häufig durchkreuzen Momente des amerikanisch-europäischen Jazz, des Musicals, der Revue- und Showmusik den in der Idylle vorherrschenden Folklorismus. Der mehr oder weniger freiwillige Humor der Vorlage wurde jedenfalls, nicht zuletzt dank des Bühnenbilds von Hartmut Schörghofer und der Kostüme Frauke Langers, gebührend subtil und effektvoll ausgekostet.

Das berühmte Hotel am Wolfgangsee im Salzkammergut freilich existiert und boomt unter gleichem Namen weiter, nicht alleine, aber sicher auch aufgrund der fortgesetzten Popularität der Benatzky-Operette.
Im Weißen Rössl
Weitere Termine:
17.3., 18 Uhr
21.4., 18 Uhr
22.4., 15 Uhr
Spielplan des Theaters Erfurt