Primat(en) der Unterhaltung

Jede/r kann noch mit dem Blick aufs Heute bestätigen, was der österreichische Philosoph Robert Pfaller vor wenigen Jahren festgehalten hat: In den öffentlichen Unterhaltungsmedien vom Buch in jedwedem Format über das Internet bis zum Fernsehen dominiert der tragische Diskurs in einer Größenordnung von um die achtzig Prozent. Aber warum werden eigentlich so viele Krimis und Thriller produziert? Ausgehend von dem aus Aristoteles‘ Poetik extrahierten Mimesis-Prinzip, dem die Interdependenz zwischen einem Publikum und dem auf der Bühne Dargestellten eingeschrieben ist, kann dafür weder die Rezipienten- noch die Produzentenseite alleine einstehen. Der Mensch ist ja nicht unähnlich den (anderen) Primaten ein nachahmendes Wesen, deshalb liebt er es, wie im Theater offenkundig, andere zu fingieren oder diese in fingierter Handlung zu sehen.

Auch wenn die im Mittelpunkt stehenden Sänger/innen in dieser Oper das Apollinische und seine fiktiven bedrohlichen Aspekte ebenso wie das Dionysische auf der Basis ekstatischer Ausgelassenheit repräsentieren, überwiegt der komische Effekt: Rossinis ‚Il Barbiere di Siviglia‘ in Mexico City (Compañía Nacional de Ópera, Palacio de Bellas Artes, Ksarmiento, 28.2.2014, CC-Liz.).

Letztendlich geht es um Gerechtigkeit: Im Kriminalfilm soll die Polizei als Ordnungsgarant zu Recht verhelfen, das der Unterhaltungskonsument in der Politik, wenn es um seine Angelegenheiten geht, überwiegend vermisst. Evident ist also, dass es einen Zusammenhang zwischen der Unzufriedenheit der Bürger mit der öffentlichen Situation und der Antwort darauf durch die Kulturindustrie, die ja an ihrer Selbsterhaltung ein Interesse haben muss, gibt. Das Eine ist die Faszination des mitvollziehenden Rätsellösens, die der Krimi dem Zuschauer, bietet, weil in jeder/jedem der Forscher- und Aufklärungsdrang schlummert.

Schäferspiele aus der Zeit der Empfindsamkeit und des Rokoko sind in der Regel von heiterer, „dionysischer“ Natur, doch auch in Rousseaus Singspiel ‚Le Devin du Village‘, aufgeführt in Paris am 1. Juni 1753, resultiert das glückliche Ende aus einem Konflikt, hier zwischen Land und Stadt, dem Natürlichen und dem Künstlichen: Schäfer Colin soll wieder für seine Schäferin Colette gewonnen werden, nachdem er sich einer urban-weltläufigen Aristokratin zugewandt hatte … (Kupferstich von Jean-Michel Moreau, Heartz=User 2003, F p.d.).

Neben dem „Gruseleffekt“, dem sich Aristoteles folgend der Rezipient des Tragischen umso lieber aussetzt wie er nicht in der alltäglichen Wirklichkeit ein solches Geschehen unmittelbar erleben muss, ist es aber wesentlich die Beruhigung, die er empfindet, wenn am Ende das Verbrechen aufgedeckt und geahndet wird, ein Ende, das die antike Tragödie allerdings selten aufwies, weshalb das Publikum durch die Bedienung der dionysischen Seite des Daseins mit dem Satyrspiel erlöst werden musste. So oder so, in der Polis oder in den modernen Demokratien mit all ihren oligarchischen Zügen wird die Aufrechterhaltung von Ordnung eingefordert, während es in der Politik – gleich wo – oft nicht ungern gesehen wird, dass (steuerzahlende) Bürger mit der Wiederherstellung von Gerechtigkeit durch Medienunterhaltung, Nachrichten wie Krimis, wenigstens virtuell entschädigt werden …

In der aktuellen Kulturlandschaft schon eine Ausnahme: Die Komische Oper Berlin repräsentiert wie keine andere, was heute vielerorts fehlt: eine pluralistische offene Szene und der augenzwinkernde (audiovisuelle) Blick auf unsere Abgründe und die der Gesellschaft (Gryffindor, Oktober 2007 nach der Restauration, p.d.).

 

 

 

 

 

Für die Opernbühne freilich lässt sich feststellen, dass sich apollinische und dionysische Elemente, Tragisches und Komisches häufig(er als im gesprochenen Theater) mischen; Ironie und satirische Momente vermögen alleine schon einen ernsten Stoff zu wenden, man denke etwa an die Leporello-Figur in Mozarts Don Giovanni. Dies gilt sicher mehr für das frühe Musiktheater des 17. und 18. Jahrhunderts, in dessen Hintergrund die europaweit populäre Commedia dell’Arte agiert und wo Singspiele gänzlich heiterer Natur in großer Zahl auftauchen, als für das der Gegenwart, gleich ob man an Olga Neuwirths oder Eleni Karaindrous Opern denkt.

Die Erfahrungen der beiden Weltkriege und der humanitären Katastrophen im 20. Jahrhundert erklären wohl zu einem Teil das auch in der Musik zu beobachtende Primat des „Apollinischen“ und Tragischen heutzutage, wenn man einmal die oft affektneutrale experimentelle Kunst oder das absurde Theater nicht berücksichtigt. Dabei hat jede Zeit ihren Anspruch auf das wahrhaft Komische, denn häufig gewährleistet es komplexere Spiegelungen der Gesellschaft und ihrer individuellen Akteure.

Literatur u.a.
Ruth Bolten-Köbl: Das Pathos des Dionysischen. Zum Verhältnis von Philosophie und Musik bei Nietzsche. Diss. Bonn 2001.
Susanne Zepp: Portugiesisch-brasilianische Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn 2014. S. 195 – 211.


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