Unverstaubt aus dem Museum

Aneignung, Interpretation, Reflexion, Wiedererzählung, Aktualisierung, Umfärbung, Liebeserklärung, Verkünstelung, Verfremdung: Prozesse wie diese prägen die Auseinandersetzung mit dem historischen Fundus in der Moderne seit der Wende zum 20. Jahrhundert. Als besonders interessant und bislang wenig genau dokumentiert erweisen sich hier neue Einblicke in den Entstehungsprozess von Anton Weberns Rilke-Liedern op. 8, in Strawinskys Revisionen seiner zuerst als Ballettmusik angelegten Feuervogel-Suite, die gleichzeitig ein Paradebeispiel für das (neoklassizistische) Spiel mit alten Formen und Formeln abgibt. Die beim ersten Hören zunächst „kryptische“ Intention der Bearbeitungen sizilianischer Volkslieder durch Luciano Berio oder die bisher nicht en détail erkundete Quelle für Schostakowitschs Tahiti-Trott fördern weitere Erkenntnisse zutage.

Eine Aufsehen erregende Ausstellung über (Traditions-)Referenzen von Musik und Kunst um 1900 beherbergte das Baseler Museum Tinguely von Februar bis Mai 2018 (Taxiarchos228, 6.8.2014, Licence Art libre).

All dies und noch vielmehr versammelt ein als aufwändiges Kompendium gestalteter Begleitband zur Ausstellung RE-SET. Aneignung und Fortschreibung in Musik und Kunst seit 1900 im Baseler Tinguely-Museum vom 28. Februar bis zum 13. Mai 2018. Das im Breitfolioformat präsentierte Buch bietet neben häufig mehrseitigen Auszügen aus den Originalpartituren der Kompositionen Einsichten in den jeweiligen Werkprozess mit Kladden und Notizen, aber auch zeitgenössisches ergänzendes Bildmaterial wie Werbeplakate.

Der mit großer Detailfreude erarbeitete Ausstellungsbegleiter ‚RE-SET‘ erschien bei Schott Music Mainz (ISBN 978-379579885-7).

 

Darüber hinaus werden den einzelnen Sektionen Kollegendialog, Eigenbearbeitung, Referenz an Volksmusik, Popularisierung und Nobilitierung grundlegende Einführungen von Jonathan Cross, Friedrich Geiger, Jürg Stenzl und Simon Obert vorangestellt, so dass auch über die Einzelanalysen ein theoretischer Bogen gespannt wird. Verdienstvoll ist, dass gelegentlich auch den einem breiteren Konzertpublikum weniger bekannten Werken Aufmerksamkeit geschenkt wird, so etwa Sándor Veress‘ Transsilvanischer Kantate durch Márton Kerékfy. Die Realisation der auch in graphischer Hinsicht maßgeblichen Publikation ist der Paul-Sacher-Stiftung sowie den Herausgebern Heidy Zimmermann und Simon Obert zu verdanken.

Boris Fernbachers Veröffentlichung zur jüdischen Musikgeschichte legt seine Schwerpunkte auf die verschiedenen Sparten jüdischer Musik einschließlich ihrer Herkunft und widmet sich besonders jüdischer Musik in Nordamerika (ISBN 978-3746024301-2, 2018).

 

Einen Querschnitt durch die 3000jährige jüdische Musikgeschichte bietet der Klavierpädagoge und Experte des Themas, Boris Fernbacher, mit einer wohl erstmaligen Veröffentlichung dieser Art in deutscher Sprache. Vom Jerusalemer Tempel nach New York hält viele Überraschungen für Leser bereit, die zwar den Kanon bedeutender Werke europäisch-jüdischer Komponisten kennen, aber bisher wenig über teils religiös basierte Traditionsvermittlung wussten. Dabei wird sowohl ursprünglicher Synagogalmusik als auch der Entstehung eines spezifisch jüdischen „Jazz“ und Pop- und Rockmusik aus Israel nachgegangen. Ein Schwerpunkt liegt nach den Erläuterungen zur Genese mehrstimmiger Synagogalmusik auf der durch Auswanderungsbewegungen und die Pogrome der Nationalsozialisten (mit)bedingten Erfolgsgeschichte jüdischer Komponisten in Nordamerika, insbesondere in New York.

Die von Siegbert Rampe herausgegebene eingehende Darstellung der Instrumentalmusik zwischen (ca.) 1590 und 1750 könnte zu einem Referenzwerk werden (Laaber Verlag, ISBN 978-389007873-1, Laaber Verlag).

Umfassend über die Instrumentalmusik des Barock informiert die aktuelle, von Siegbert Rampe herausgegebene dritte Publikation innerhalb der Reihe Handbuch der Musik des Barock, die Anfang Juni erschien. Die Sparten des Buchs richten sich sowohl nach den verschiedenen Besetzungen vom Solospiel bis zum Hoforchester als auch nach den Gattungen. Bisher wenig beleuchteten Sonderformen wie der Orchester-Sinfonia und der Kammermusik ohne Generalbass wird ebenso Beachtung geschenkt. Siegbert Rampe lotet mit seinen Co-Autoren Grzegorz Joachimiak als Kenner der Gitarren- und Lautenmusik der Epoche und dem Experten für das Flötenrepertoire, Clemens Fanselau, auch die zeitlichen Grenzen des aus heutiger Perspektive definierten Barockzeitalters am Ende des 16. Jahrhunderts und um 1750 präzise aus.

 

 

 

 


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