Es bestehen Kongruenzen zwischen der Denkweise, wie ein Architekt einen Hausbau und der Komponist den Grundriss für einen musikalischen Satz plant, den er aus einem knappen Einfall entwickeln kann. Der Nachvollzug, mit welchen technischen und gestalterischen Mitteln ein Präludiums oder eine Fuge in der Barockzeit entworfen wurde, bedeutet, in die innere Substanz eines erdachten oder erst zu erdenkenden Bauwerks vorzudringen, sein Harmoniegerüst zu entwerfen, Kontrapunkte zu setzen, die Teile zu einem fließenden Ganzen zu ordnen, in dem, von außen hörbar, bruchlos alles ineinandergefügt erscheint. Anders als in der Architektur aber kennt ein musikalisches Konstrukt vor allem flüchtige Materialien, die der Zeitlichkeit unterworfen sind: imitatorische Versetzung einer Melodie, metrische Stauchungen, Engführungen und fantasievoll dahinperlende Kadenzläufe.

Alexander Grychtolik, Hochschuldozent und Gründer des Ensembles Deutsche Hofmusik, ist in beiden Künsten „zu Hause“, da er die Strukturen aus der Innenperspektive erforscht hat: Parallel zu einem Cembalo-Studium bei Bernhard Klapproth schloss er an der Bauhaus-Universität Weimar ein Architekturstudium ab, setzte dann seinen Bildungsweg in Brüssel als Schüler von Frédérick Haas am Königlichen Konservatorium in Brüssel fort. Er gilt zusammen mit seiner Frau Aleksandra, die selbst eine herausragende Konzertcembalistin ist, als einer der wenigen Interpreten unserer Zeit, die auf in der Lage sind, auf dem Cembalo zeitgenössisch, etwa mit einem Sprung in die Zeit um 1700, zu improvisieren.
Im Falle der Aneignung von J.S. Bachs Instrumentalmusik bedeutet dies natürlich die Überwindung großer Schwierigkeiten, da wegen ihrer Komplexität nur bei genauester Analyse Gedanken und Strukturen erfassbar und nachvollziehbar sind. Insbesondere der Faktor der harmonisch stimmigen Synchronizität hintereinander einsetzender gleicher Melodien beim Kanon wirft Probleme auf, die nicht alleine durch permanentes Einüben gelöst werden können. Eben diese hohe Kunst zelebrierte Alexander Grychtolik in einer im Bach-Stil improvisierten mehrteiligen Fantasie & Fuge.

Auf dieses Gebiet versteht sich aber das Paar Alexander und Aleksandra Grychtolik bestens, im Zusammenspiel wie solistisch. In einer ritornellartig angelegten Concerto-Improvisation führten sie diese Kunst anlässlich des Arnstädter Bach-Festivals im historischen und akustisch besonders geeigneten Ratssaal der Stadt am heutigen Samstag brillant vor. Von starrer „Mustergültigkeit“ kann hier keine Rede sein, da wegen des improvisatorischen Anteils jedes Konzert unterschiedlich lang sein kann, die beiden Cembalisten sich gegenseitig die Bälle zu weiterer Fortspinnung begonnener Gedanken zuwerfen, durch einen Schlussakkord oder eine vorbereitende Dominante neue Variationen hinzuerfinden können. Zwischen den Bach-Vater geschuldeten Improvisationen taucht der Rondo-Anlage ein Adagio mit Fuge aus einem Werk von Carl Philipp Emanuel Bach wiederholt auf.

Die sprudelnden Einfälle, die J.S. Bachs Prélude aus der Englischen Suite d-Moll (BWV 811) kennzeichnen, wurden von Aleksandra Grychtolik ebenso fließend wie mit den richtigen Akzenten in einen dramaturgisch organisierten Zusammenhang gebracht. Eine effektive Steigerung bis zum Schlussakkord erreichte die Cembalistin durch den geschickt gesetzten Übergang von einer legato-betonten zu einer portato-betonten Spielweise. Sehr schön gelang beiden Interpreten auch die Improvisation der Chaconne für zwei Cembali in Antonio Bertalis Stil. Der kammermusikalische Vormittag stand somit ganz im Zeichen einer heute – jedoch nicht in der Barockzeit – ungewöhnlichen, ja einzigartigen Form des Umgangs mit dem Cembalo (und im Anschluss auch der Orgel).
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