Ein Etikettenraub?

Da Links zur musikarchäologischen Beweisführung fehlen, kann sich Paris vorerst weder für Helenas noch für Aphrodites Apfel entscheiden: Es bleibt einstweilen ungeklärt, ob der appellative Sammelbegriff Romanesca italischen oder iberischen Ursprungs ist, wobei für die Möglichkeit des letzteren die Gattung der Romances als Argument angeführt wurde. Von der Mitte des 16. Jahrhunderts an taucht der hier und da gebrauchte Name sowohl in einer italienischen Quelle als auch in Diego Ortiz‘ spanischem Trattado de Glosas und im Titel zu Variationen eines Villancicos auf.

Diego Ortiz (1510 - 1570), der lange in Neapel wirkte, erwähnt in seinem 'Tratado de glosas' (1553) die Romanesca als zugehörig zu den in Italien gebräuchlichen liturgischen Melodien Frontispiz (1553, US p.d.).
Diego Ortiz (1510 – 1570), der lange in Neapel wirkte, erwähnt in seinem ‚Trattado de Glosas‘ (1553) die Romanesca als zugehörig zu den in Italien gebräuchlichen liturgischen Melodien (Frontispiz 1553, US p.d.).

Die Bezeichnung Romanesca o guardame las vacas („Hüte mir die Kühe“) bezieht sich auf eine alte, 1577 bei Fray de Salinas in De musica aufgezeichnete folkloristische Melodie, die sich in ihrem viermaligen Abwärtsschreiten ideal zur Quartschrittsequenz in der Bassformel der Romanesca, auch Aria per cantar genannt, fügt; sie findet sich in zahlreichen CD-Einspielungen. Als stimmig kombinierbar erwies sich die eingängige Melodie darüber hinaus in der Verknüpfung mit Ritornello oder Ripresa.

Alonso Mudarras 'Romanesca' von 1546 findet sich auch in einer Interpretation des legendären Gitarristen Andrès Segovia (B004EBJSY0, 2010, Classic Music International).
Alonso Mudarras ‚Romanesca‘ von 1546 findet sich auch in einer Interpretation des legendären Gitarristen Andrés Segovia (B004EBJSY0, 2010, Classic Music International).

In den überlieferten Stücken von Instrumentalmusik für die Praxis, die das Etikett der Romanesca tragen, handelt es sich um Beispiele in Tanzbüchern für Laute, etwa in demjenigen von Cosimo Bottegari um 1574. Später, etwa im Werk von Girolamo Frescobaldi um 1630, finden wir diese Titelgebung für Stücke mit Gesangsstimme und Basso continuo, aber nur ein Beleg aus dessen Schaffen stellt eine Komposition für Tasteninstrumente dar. Nach 1620 erweist sich das Modell als variabel: Claudio Monteverdi durchbricht in seinem Madrigal Ohimè dov’è il mio ben die identischen metrischen Abstände.

Zum vorläufig letzten Mal (jedenfalls den ermittelten Quellen nach) gebraucht der Cembalist und Herausgeber einer verbreiteten Capriccio-Sammlung, Gregorio Strozzi, den Namen 1687 für seine Bearbeitung einer entsprechende Melodie. Dann verlieren sich die Spuren der Romanesca, deren klanghafter Name für alles mögliche, für die Folia und den Passamezzo antico oder gänzlich Fremdes gebraucht wurde – denn schließlich findet sich ihr Satzmodell im zeitlosen Hit Greensleeves wieder. Nicht ohne gute Gründe benannte sich zudem ein von Andrew Manze mitbegründetes und bis heute erfolgreiches Kammerorchester für Alte Musik Ensemble La Romanesca.

Die Grafik zeigt das ursprüngliche isometrische Satzmuster der Roamnesca - bevor Monteverdi es verwandelte (30.7.2011, Olorulus, GNU Free Doc. Lic.).
Die Grafik zeigt das ursprüngliche isometrische Bassmuster der Romanesca – bevor Monteverdi es abwandelte (30.7.2011, Olorulus, GNU Free Doc. Lic.).

Der Verdacht liegt demnach am nächsten, dass hier ein genuin italienischer Renaissancetanz, der mit der Stadt Rom oder jedenfalls ihrer musikalischen Manier in Verbindung gebracht wurde, zur Zeit von Hans Newsidlers Erwähnung in seinem Lautenbuch von 1540 einfach für eine (bereits vorhandene?) spanische Melodie durch einen repertoirekundigen und versierten Vihuelisten wie Alonso Mudarra sechs Jahre später übernommen wurde, ohne dass irgendeine Ähnlichkeit oder Verwandtschaft zwischen beiden Melodien bestehen musste.

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