Die nun fast schon 70 Jahre hindurch auf dem Fachpressemarkt etablierte Zeitschrift Die Musikforschung wartet in ihrer zweiten Nummer 2016 neben vielem anderen Lesenswerten mit einer kritischen Nabelschau auf derzeitige Trends innerhalb der Musikwissenschaft auf. Kurz gesagt läuft der Beitrag der feldforschungsversierten Göttinger Musikethnologin Birgit Abels wenn auch auf keine Abrechnung, so doch auf die Bewusstmachung einer aktuellen Schieflage und einen Anstoß zur Selbstreflexion hinaus: Statt beharrlich weiter kulturwissenschaftliche Felder außerhalb oder am jenseitigen Rand des eigenen Gegenstands zu beackern, sollte sich das Fach wieder auf die Musik als solche, nämlich als akustischen Sonderfall der Kulturgeschichte und auf ihre gegenwärtige Performativität besinnen.

PhotoGallery/berlioz.html, ohne Autorinformation, US p.d.).
Das von den Hochschullehrern Arnold Jacobshagen in Köln, Ivana Rentsch in Hamburg und Klaus Pietschmann in Mainz getragene Periodikum der Gesellschaft für Musikforschung verfügt neben aktuell(st)en Fachbeiträgen, die nicht selten wesentliche offene Fragen der Musikwissenschaft bzw. -pädagogik empirisch-fundiert diskutieren und zu beantworten suchen sowie Forschungslücken schließen, über einen großen Apparat mit Fakten und Daten zum Fachbetrieb auf dem neuesten Stand, zwei Listen mit den im Vorjahr abgeschlossenen Dissertationen – sortiert nach den Universitäten – und der jüngst publizierten Forschungsliteratur in Buchform. Darüber hinaus findet sich in jeder Ausgabe ein umfangreicher Rezensionsteil mit Besprechungen durch Wissenschaftler, die in der Regel eng am oder im Spezialgebiet der AutorInnen oder HerausgeberInnen geforscht haben und somit ein wohlbegründetes Urteil abliefern. Zusätzlich wird auf online verfügbare Tagungsberichte unter www.musikforschung.de verwiesen.

Die neueste Ausgabe fesselt den Leser gleich mit zwei weiteren Aufsätzen, die Aha!-Erlebnisse zu bisher wenig erkundeten, aber in größeren Zusammenhängen Fragen aufwerfenden Seitenthemen bieten: Der in Luzern lehrende Musikhistoriker Timohir Popović beschäftigt sich anhand des Indien-Diskurses im 19. Jahrhundert aus erster Hand mit Quellen des kolonialistisch orientierten britischen Musikschrifttums und kommt unter anderem zu dem Schluss, dass in der konservativen Sicht auf das Orientale „das okzidentale Weltbild … noch einmal sich selbst“ bestätige. Helmut Loos geht in seiner eingehender Analyse dem Beethoven-Bild der 1968er-Bewegung nach und Rainer Bayreuther widmet sich der Entwicklung und den besonderen Begleitumständen der Rhythmusbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Thema wird von Rolf Großmann aufgegriffen, der die Nachwirkungen dieser „Bewegung“ im 21. Jahrhundert reflektiert, indem er besonders auf die Club-Kultur eingeht, die ihre Voraussetzungen in einem radikalen technologisch bedingten Wandel der rhythmischen Ästhetik in den 1980er Jahren hat. Somit stellt das Blatt mit seinen Beiträgen nicht nur für Studierende und Postgraduierte eine wertvolle Ergänzung zur fachlichen Gebrauchsliteratur, sondern auch für ausübende Musiker und alle überhaupt an Musikgeschichte und -forschung Interessierten dar.
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