Die Figur des Don Giovanni erschien Philipp Kochheim bei aller Blässe ihrer Charakterisierung durch Lorenzo Da Ponte als Katalysator für Entfremdungsprozesse in den Mikroebenen der Gesellschaft, die so ins Bewusstsein des Zuhörers rücken. Nimmt man die Kleidertauschszene mit seinem Diener Leporello hinzu, kommt ein weiteres Element hinzu: Gezeigt wird die personifizierte Irritation der Verhältnisse in ihrem egomanem Spieltrieb mit ihren spontanen Finten, wobei tragischer Ernst und der Spaß der Verstellungskomödie des öfteren ununterscheidbar ineinander zu fließen scheinen. Der erfahrene Regisseur ist seit zwei Jahren Operndirektor am Staatstheater Braunschweig, wo er Hubays Anna Karenina ebenso wie Astor Piazzollas Maria de Buenos Aires inszenierte. In Verbindung mit Hank Irwin Kittel gelang ihm mit der gestrigen Mozart-Premiere am Theater Erfurt ein optisch und dramaturgisch vielschichtiges Szenarium.

Don Giovanni, am Samstagabend durch den Südafrikaner Siyabulela Ntlale auch schauspielerisch überzeugend verkörpert, deckt mögliche Lücken in den Beziehungen auf und bricht grausam in den Alltag von Liebenden ein, zerstört Familien an der Wurzel. Der Untergang des tausendfachen Verführers ist dadurch eingeläutet, dass er Donna Annas Vater, der ihn in flagranti mit ihr ertappte, niedersticht. Philipp Kochheim entgeht einer Wiederholung der unglaubwürdigen Sage vom sprechenden Standbild des Komturs dadurch, dass er die Geschichte in einer Universitätsklinik ansiedelt, die von Ferne durchaus an das Sanatorium in Thomas Manns Zauberberg erinnern soll.

Dort liegt der Sterbende im Koma, beginnt aber am Anfang der Peripetie im zweiten Akt plötzlich zu Giovanni als Chefarzt und Leporello zu „sprechen“ und bekräftigt sein Kommen zum Abendessen. Der Schreck ist groß, als er wie ein Geist tatsächlich vor seinem Haus auftaucht. Nachdem Giovanni die fatale Gegeneinladung des eisgrauen Gastes angenommen hat, drückt ihm der Komtur – in Kochheims Inszenierung als Direktor tituliert – zur Besiegelung seines Todes die Hand und lässt den Übeltäter so an einem mysteriösen Kälte-Hitze-Schock sterben.

Dass die musikalisch von Mozart als idyllische Zweisamkeiten typisierten Beziehungen Donna Annas, Elviras und Zerlinas nicht unproblematisch sind, verrät in der aktuellen Interpretation nicht zuletzt das Verhalten ihrer Geliebten. Masetto etwa wird als messerschleifender Chefkoch dargestellt, der Zerlina auf dem Großküchentisch mit physischer Gewalt zu Leibe zu rücken droht – besonders, als er sie wegen der Tändeleien mit Giovanni zur Rede stellt. Das Bühnenbild selbst exponiert sich im übrigen durchwegs als tiefendimensioniertes „simultanes“ Panoptikum der Szenen dieses zweiaktigen dramma giocoso. Selbst ein äußerst aufmerksamer Zuschauer dürfte Schwierigkeiten gehabt haben, bei der Geschwindigkeit des Handlungsverlaufs alle sinnfälligen Details im Bühnendesign und in der Beleuchtung, in der anspielungsreichen Kostümierung und Drapierung der Interieurs wahrzunehmen.

Vor allem die voluminösen Stimmen Vazgen Ghazaryans mit dämonisch dröhnendem Bass als „Direktor“ – mit schlohweißem, nach hinten abstehendem Haupthaar von Sasha Heider-Friebel genial maskiert – ebenso wie der Norwegerin Margrethe Fredheim in der Rolle Donna Annas und dem Leporello Juri Batukovs füllten den gesamten Raum mit ausdrucksvollem Timbre und herzenswarmen, gelegentlich mit Ironie gewürzten Kantilenen. Joana Mallwitz‘ zupackende Orchesterleitung sorgte für Ausgewogenheit ebenso wie für die Dechiffrierung verborgener Strukturen – insbesondere in jener ariosen Passage, in der sich die Soloharfe mit dem Pizzicato der Streicher zum Gemälde eines renaissancehaften Kammerstücks verbindet.
Weitere Termine: 9.12.2015, 27.12.2015, 15.1.2016, 14.2.2016, 11.3.2016, 2.4.2016, 10.4.2016, 7.5.2016
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