Neben einer ausgeprägten avantgardistischen Musikszene entwickelte sich in den Übergangsbereichen in Polen – mit gewissen Wurzeln im westeuropäischen Orchesterchanson der 1920er Jahre – eine besondere Szene, die sich auch oder gerade im kulturellen Klima der sozialistischen Jahre behaupten konnte. Die Rede ist von balladennahen Liedern mit großem Begleitinstrumentarium, bekannt als „orkiestra popularna“, die insbesondere auf den jährlichen Freiluftfestivals in Opole und Sopot höchst publikumswirksame Aufmerksamkeit finden. Einer ihrer prominenten Vertreter ist der in Weißrussland geborene Komponist Czeslaw Niemen (1939 – 2004), den man als Wanderer zwischen den musikalischen Welten bezeichnen kann.

Mit 20 Jahren zog er mit seiner Familie aus dem weißrussischen Stara Waszilinski nach Danzig und begann dort Musik zu studieren. Bemerkenswert für einen Komponisten, der zuletzt die Filmmusiken für Andrzej Wajdas international bekannte Produktionen schrieb ist, dass er als Rocksänger startete und zwar, indem er zunächst den Stil der Beatles aufgriff. Von ihnen erhielt er wohl auch die Inspiration zur romantischen Ballade, die aber mit der klassischen Liedgattung wenig gemeinsam hat. Im Verlauf der 1960er Jahre, in denen er auch Marlene Dietrich auf ihrer polnischen Konzerttournee beeindruckte, wurde sein Stil komplexer und die Texte sprachen nun vor allem die studentische Jugend und gewisse politische Aufbruchsbewegungen an.
Einer der großen Hits dieser Jahre war Czy mnie jeszcze pamiętasz, den Marlene Dietrich unter dem Titel Mutter, hast du mir vergeben auf deutsch in ihr Repertoire aufnahm. Niemens erstes Soloalbum kam 1967 auf den Markt. Es enthielt Sprengstoff: den bis heute größten Protestsong und die Hymne der damaligen polnischen Jugend: Dziwny jest ten świat (Fremd ist diese Welt). Dieses Album brachte den Durchbruch auf den internationalen Rockpodien, doch gilt als sein bedeutendstes Album Enigmatic (1970), das Niemen dem polnischen Freiheitshelden General Jozef Bem widmete. Mit einer „Rhapsodie“ darin gelang ihm die Verschmelzung von avantgardistischem Rock mit andachtsvoller Religiosität. In den 1970er Jahren näherte sich der Sänger einerseits der amerikanischen Fusion-Szene an, andererseits vertonte er Texte von Julius Slowaczki und Cyprian Kamil Norwid.

Außer einer ausgeprägten Tradition des patriotischen Liedes mit umfänglichem Begleitinstrumentarium etwa zum polnischen Unabhängigkeitstag gibt es in der Freiluftszene eine sehr eigenständige Chansonszene mit Orchesterbegleitung. Hier kommen sowohl Bands als auch gleichzeitig Streicher und gelegentlich Chöre zum Einsatz, wobei zudem Klavier, Schlagzeug, Saxophone, weitere Big-Band-Instrumente und E-Gitarre Anwendung finden. Die Vokalstimme erklingt immer wieder durch synthetische Halleffekte verstärkt. Als Sänger wären für die 1970er Jahre insbesondere Anna Jantar zu nennen. Heute sind ihre Tochter Natalia Kukulska, Anna Wyszkoni, Natalia Niemen, Halina Mlynkova, Anna Maria Jopek, der Dirigent Piotr Rubik oder Kamil Bednarek, der Jazzsänger, -pianist und -komponist Mieczysław Szcześniak, außerdem singende Schauspieler auf den großen Festivals aktiv. Als typisch für die öffentliche Musik in Polen insgesamt kann, um ein Resümee zu geben, gelten, dass die Sphären von ernster und Unterhaltungsmusik sehr durchlässig sind.
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