Eins mit der Natur werden

Seine einerseits gewagte, gleichzeitig stimmige Verbindung von japanischem Butoh-Tanz und dem Dionysos-Mysterium der antiken europäischen Überlieferung stellte am vergangenen Freitag und Samstag der Nürnberger Performancekünstler und Dramatiker Alexander Wenzlik dem Münchner Publikum im Theater Schwere Reiter vor. Der studierte Tanzpädagoge aus dem Freiburger Dance Vision Institute erlernte schon vor Jahren die hier immer noch als fremdartig betrachtete ostasiatische Kunst mit den Möglichkeiten westlicher Bühnen.

Einbruch des Stierkopfträgers Dionysos (Alexander Wenzlik) in die Zivilisation (H.-P. Mederer, 16.3.2024)

Nach Anfängen als Teilhaber an Projekten von Stefan Maria Marb gründete er im Zuge seiner Faszination für den japanischen ekstatischen Tanz zusammen mit dem Tanzkünstler Seda Büyktürkler die Butoh Performancegruppe. Auch seine neueste Produktion Dionyzoé, „Leben des Dionysos“, beruht auf dieser Gründung, die der 2017 errungene Erfolg mit Wenzliks erstem Solostück Sirene im Münchener HochX Theater und Live Art fortsetzen konnte. Aus der Zusammenarbeit mit dem italienischen Butoh-Tänzer Alessandro Pintus und einer internationalen Künstlerschaft ging die Idee zu Apocalisse Nova hervor. Diesem gegenüber eröffnet Dionyzoé bei allem Bezug zur archaischen Antike eine optimistisch stimmende Zukunftsperspektive, die man im Wiederfinden der wilden, unbezähmbaren Natur durch den Menschen und seinem Aufgehen in dieser sehen könnte. Auch der Aspekt der Naturbewahrung spielt hier eine Rolle, denn Dionysos geht in ihr ein und auf, ohne sie zu beeinträchtigen.

(A. Wenzlik: Dionyzoé, Theater Schwere Reiter München, H.-P. Mederer, 16.3.2024)

Für die beeindruckend weiträumigen, in ihren langen Einstellungen etwa an Pasolinis Edipo Re erinnernden ruhigen Landschaftsbilder, in denen sich zuerst das seiner Höhle entschlüpfte Kind Dionysos tummelt und später der erwachsene Gott der Ekstase, des Rausches und der Androgynität, war Stephanie Felber verantwortlich. Als interessantes Detail ist festzuhalten, dass sie zwischen den Film und den Vordergrund des Bühnengeschehens einen Vorhang aus schmalen Stäben einzog, durch den Dionysos alias Alexander Wenzlik vor die Zuschauer tritt. Die Kostüme entwarf Mirella Östreicher, die seit 2012 eigene künstlerische Projekte verantwortet; sie studierte in Berlin Bühnen- und Kostümbild in Berlin, anschließend in Dresden. Für Dionyzoé konzipierte sie eine Stierhörnermaske, die an antike Vorbilder denken lässt und die wechselnde, der Wildheit des Gottes entsprechend erdachte Kleidung wie etwa den schwarz gepunkteten, an einen Marienkäfer gemahnenden, überknielangen Rock, mit dem Dionysos durch den Wald springt.

Indonesisches Buto-Tanzritual (Tari klasik Buto, Sudanto Ponco Sularso, 28.4.2018, CC-Liz.)

Last but not least stammt das musikalische Arrangement aller Szenerien von dem Musikproduzenten und Tontechniker Julian Scheufler. Die Aufnahmen, bei denen nur vordergründig traditionelle Instrumente wie Violine und Cello verwendet wurden, entstanden im Münchner Südpark Studio. Selbst ist er Multiinstrumentalist, spielt Gitarre, Bass, Klavier und Schlagzeug und betreut seit seinem Bachelor-Studium in London vielfältige musikalische Projekte. Auffällig war, dass er für die Melodien Ausschnitte aus Vivaldis Quattro Stagioni hinzuzog. Für den Abend im Theater Schwere Reiter verantwortete er zudem Schnitt und Mischung. Einer Einordnung in ein bestimmtes Genre entzieht sich seine Musik gänzlich, sie schwebt zwischen Klassik, Welt- und Filmmusik.

Dionysos (Alexander Wenzlik) beschwört die Kräfte der Natur – ohne menschliche Sprache (H.-P. Mederer, 16.3.2024)

Wenzlik spricht zwar nicht in der Performance, singt aber in einer Passage eine Art japanischen Jodler und stößt Laute aus, die aus der enormen physischen Anstrengung bei seinem nahezu pausenlosen ekstatisch-ruckhaften Butoh-Tanz durch Feld und Wald im Winter wie im Sommer resultieren. Man durfte erstaunt sein, dass der Schauspieler Wenzlik bei einem so enormen Kraftaufwand bis zur Grenze unbeschadet den verdienten Applaus der Besucher erntete.


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