Elektrisierend, hypnotisierend: von Bach bis Reich

Motivbruchstücke auf Takte anzulegen und auch längere Motive in sich repetierende rhythmische Einheiten aufzuteilen ist nichts Neues: J.S. Bach hat es, meist mit seinem Idol Vivaldi im Hintergrund, zur Genüge getan und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts taten es die Protagonisten der Minimal-Music-Bewegung auf andere Weise. Es war wohl doch ein Markenzeichen der noch vor 1700 Geborenen, in jeglicher Hinsicht vielfältig zu komponieren: Man beschränkte sich nicht auf rhetorische Katalogmuster, sondern war selbst erfindungsreich genug: Daher erklären sich auch häufige Wechsel von Einfällen, oft bereits in jedem dritten Takt.

Bildete am Abend des diesjährigen Ostermontags die Farblichkeit und den Abwechslungsreichtum von melodisch basierten rhythm patterns ab: die Videoregie von Jemma Woolmore (Theater Erfurt, Compagnie-La-Tempete-StructuresBachMin-LaTempete-web-85493).

Dabei geht es der in der südwestfranzösischen Region Nouvelle Aquitaine beheimateten Compagnie La Tempête mehr darum, die Klanglichkeit rhythmusbetonter Mikroelemente der Musik herauszustellen – und dies in einer Spannweite zwischen der mittleren Barockzeit und der Gegenwart, die an der genaueren Entstehungszeit der demonstrierten Repertoires gemessen ziemlich genau 300 Jahre umfasst.

Anfang der langen Solopassage im 3. Satz des Cembalokonzerts d-Moll, BWV 1052 von J.S. Bach: Hier werden die Möglichkeiten von rhythm patterns in modern anmutender Ausführung realisiert (Adapted from BGA score edited by Rust, IMSLP, D p.d.).

Schon bei Bach treten in ein- und demselben schnellen Konzertsatz, vorgeführt an den Ecksätzen des Cembalokonzerts d-Moll (BWV 1052), mehrere verschieden lange, teils durch Modulation verschobene Einheiten ein- oder mehrmals repetiert auf, von einem Intervall bis hin zu ausgesponnenen Melodieteilen über mehrere Takte hinweg. Das pausenlose Vorantreiben solcher wiederholter rhythmisierter Einheiten führt zu einer „elektrisierenden Schreibweise“, wie Ensembleleiter Simon-Pierre Bestion es nennt. Die Wirkung der so entstehenden Klangwelt sei „ununterbrochen, belebend, fast hypnotisch“. Bewegung und Gegenbewegung nach vorne und rückwärts werden, so möchte man hinzufügen, nahezu physisch erlebbar.

Steve Reich demonstriert durch Klatschen Rhythmusmuster (Ian Oliver, LPLT, 8.9.2006, CC-Liz.).

Der mittlere Teil dieses d-Moll-Konzerts, präzise und temperamentvoll gespielt von dem Cembalisten und Dirigenten  Louis-Noël Bestion de Camboulas wurde von den MusikerInnen, die zusammen etwa auf die Größe eines europäischen Kammerorchesters kommen, verfremdet, umstrukturiert und ausgedehnt. Die bis heute populäre Passacaglia und Fuge c-Moll (BWV 582) erfuhr anschließend in einem Arrangement für diverse Instrumente, von den sieben Violinen, drei Bratschen, vier Celli und zwei Kontrabässen ein stimmiges Arrangement, das den Schwerpunkt weniger auf den gleichförmigen walking bass als vielmehr auf die Gestaltung in den harmonischen Knotenschürzungen, Brüchen und Fortführungen in den mittleren Lagen abhob.

Wusste das Cembalo mit seinen Klangfarben auch im Kontrast oder komplementär zum Orchester einzusetzen, dem er eher „lange und weite Klänge“ (Simon-Pierre Bestion) zugedachte: Henryk Mikołaj Górecki (Lech Kowalski & Włodzimierz Pniewski,1993, PL p.d.).

Auf Henryk Goreckis Cembalokonzert von 1995, das auch relativ häufig, sei es im Live-Konzert, sei es aus dem Rundfunk, zu hören ist, setzte das Konzept der Compagnie Steve Reichs Piano Phase (1967) folgerichtig auf, dann Knut Nystedts Immortal Bach (1988) und schließlich Jehan Alains Litanies zu hören. Im Unterschied zu Henryk Gorecki nutzte John Adams das Element der Repetition eher als „zusätzliches Mittel zu seinem Stil“, was an der Komposition Shaker loops verdeutlicht wird.

Die Instrumentalisten des Ensembles durchmaßen die zu einem Ganzen fast zusammengefügten Kompositionen mit unterschiedlicher Klangfarbgebung: So wurden die Instrumente, insbesondere die hohen Streicher, in den Litanies durch eine alternative gläsern schwingende Spielweise umgenutzt, die Musiker setzten zuvor zeitweise auch reine Gesangspartien ein. In den Schlusspartien der Litanies gleitet der Stil in (Elektro-)Pop-Sphären hinüber, die vielleicht auch auf die elektroakustische Schule des IRCAM-Zentrums zurückverweist und ebenso eine Anspielung auf die Klangsphären von Jean-Michel Jarre und seine Nachfolger darstellen mag, die die Voraussetzungen für den Techno-Sound schufen.

Klang und Licht im dunklen Raum: Die Compagnie La Tempête aus Nouvelle Aquitaine schuf auch dank der Videoinstallation eine berückende Atmosphäre (Theater Erfurt, ompagnie-La-Tempete-Bach-Minimalist-AurelieFieschi-web-85492).

Wo aber blieb die Pause? Sie hätte den Eindruck des Gesamtkonzepts der rastlosen Analyse und Sukzession der diversen Beispiele für Melodien zerbrochen, die in verschiedenen, manchmal unerwartet wechselnden Rhythmusmustern demonstriert werden, und war daher nicht vorgesehen. Der Dirigent des Abends, Simon-Pierre Bestion setzte ganz auf rastlose, motorische Vorwärtsbewegung, bei gleichzeitig genauester Beachtung des Metrums. Die Videoregie Jemma Woolmores mit ihrer lichtorgelartigen, subtil angepassten Installation und den bewegten Effekten auf den Bauelementen vor den Instrumentalisten sorgte zeitweise für eine galashowartige Einkleidung des Konzerts, dessen Repertoire allerdings, sieht man von der musikalischen Ausdeutung in der Schlusspartie ein wenig ab, keineswegs „leichte Kost“ bot.

Veranstalter: Thüringer Bachwochen 2022