Schillers Bonmot, wonach der Mensch sich als solcher zu erkennen gebe, wenn er spielt, gilt im Falle der Nutzung digitaler Möglichkeiten nur mehr bedingt, denn digitale Medien können auch vereinnahmen, unterwerfen oder beherrschen, je bis zu welchem Grad wir uns darauf einlassen. Aber die Grenzen können verschwimmen und es steht manchmal in Frage, ob wir noch die Regie haben oder uns schon im Urwald der Daten verirrt haben und uns ihnen ausliefern. Ist der Mensch nicht oft schon Marionette des Virtuellen, wird von ihnen mitgerissen? Werden die Grenzen zwischen physischem Dasein und dem Cyberspace verwischt?

Solche oder ähnliche Gedanken wollte Michael Krause wohl evozieren, nämlich mit seiner rhythmisch vorantreibenden, aus simultan ablaufenden elektronischen wie orchestralen Elementen bestehenden Komposition Face Me, die aus der Zusammenarbeit mit der Choreografin Ester Ambrosino hervorging und zum ersten Mal 2019 in Weimar gegeben wurde. Plötzlich findet sich der Tänzer oder die Tänzerin als Figur in einem Video- oder Computerspiel wieder und manchmal ist dieses Aufwachen aus einem Traum von Schrecken begleitet und stellt schier unerfüllbare Anforderungen. Selbst auf der gezielten Suche nach Daten und Lösungen kann das Internet ein Dschungel sein oder man kommt auf eine gefährliche Fahrbahn, weiß nicht, wo die Täuschung anfängt und die Realität endet. All dies wurde am heutigen Premierenabend einmal vom Philharmonischen Orchester (mit Elektronik) unter der Leitung von Claudia Patanè noch mehr markant als (nur) brillant eingelöst.

Der musikalischen Umsetzung mindestens ebenbürtig wusste der im Mittelpunkt des Abends stehende Solotänzer, Javier Ferrer Machin, das Publikum mit seinen zur Dramaturgie des Videostreams passgenau synchronisierten Schritten, Überschlägen und Pirouetten zu begeistern. Dabei fehlten in der detailversessen einstudierten Choreografie auch nicht Momente der Beruhigung und des Innehaltens, insgesamt überwog aber der rastlose (Irr-)Weg durch die Unbill und die Überraschungen des World Wide Web, dem der Protagonist mehr ausgeliefert ist als dass er mit ihm spielt.

Der Solotänzer dieses Abends,Javier Ferrer Machin begann im übrigen seine Laufbahn in Madrid, war mit der Kompanie Provisional Danza und der Regisseurin Carmen Werner europa- und amerikaweit unterwegs. Momentan arbeitet er gleichermaßen als Choreograf wie Tänzer an zwei Berliner Kollektiven mit. Für die komplexe Videokunst und die Dramaturgie erhielten zurecht zum Abschluss des Abends Dirk Rauscher und Stephan Drehmann langdauernden Applaus.

Ein Skandal schon bei seiner Uraufführung am 29. Mai 1913 hält Igor Strawinskys Ballett Le Sacre du Printemps das Theaterpublikum bis heute in Atem. Denn die erschreckenden brutistischen Klänge des polytonal angelegten Satzes stimmen Hörer und Zuschauer perfekt auf die menschliche Frühzeit ein, deren Riten hier imaginiert werden (ohne dass wir tatsächlich valide Kenntnisse darüber hätten).

Dass im Zuge der Frühlingsweihen einer vorzivilen Ethnie am Ende eine junge Frau geopfert wird, hat in den letzten Jahrzehnten vor allem bei Regisseurinnen eine kritische Lesart gezeitigt, worauf die Einführung zur Premiere hinwies: Die Frau wird als Opfer der patriarchalen Ordnung betrachtet. In der Deutung von Ester Ambrosino, die übrigens aus Sizilien stammt und in Palermo studiert hat, wird diese Bezugnahme auf die ganze Gemeinschaft der am Ritus Beteiligten ausgeweitet und gesamtgesellschaftlich interpretiert: Das Opfer ist nun Resultat aus den gemeinsamen Handlungen von Frauen und Männern.

In Kooperation mit dem Deutschen Nationaltheater Weimar trat das Tanztheater Erfurt mit vierzehn jungen Ensemblemitgliedern auf, deren Ausdrucksfähigkeit und kunstvolle Akrobatik mit den Anforderungen der Ballettkomposition Schritt hielt und in ihrer individuellen Gestaltung über sie hinausging. Lediglich das Bühnenbild hätte mit angedeutetem grünen Hügel und einer hohen grauen Wand mit einfachem Treppenaufgang wie aus einem industriellen Hinterhof nicht ganz so minimalistisch ausfallen müssen.