Zum zweiten Mal nach dem Start vor einer Woche ging an diesem Samstagabend der Vorhang auf für Offenbachs Opéra fantastique Hoffmanns Erzählungen, basierend auf dem Schauspiel von Jules Barbier und Michel Carré, die den universellen Künstler selbst in die Handlung einbezogen hatten, mitten im 19. Jahrhundert gewiss ein einigermaßen gewagtes dramaturgisches Unterfangen …

Und weil der Stoff und eine Handvoll der prägnantesten bizarren Erzählungen des (nicht nur nebenberuflichen) Dichters, Zeichners, Malers, Komponisten und Theaterpraktikers E.T.A. Hoffmann für ein äußerst buntes Spektakel an Handlungen, Figuren und Szenarien bürgen, entschied sich Regisseur Balázs Kovalik in Verbindung mit dem Dirigenten Yannis Pouspourikas dafür, diese Konzeption noch um eine Meta-Ebene zu erweitern, die aus der Darstellung von Hoffmanns Persönlichkeitsbild in der Vorlage und nicht zuletzt Offenbachs satirisch-sarkastischer musikalischer Umsetzung resultiert.

Im Zentrum steht die fortwährende Anpassung der Hoffmann-Figur an Machtverhältnisse, die sein Künstlertum einschränken und ihn zum Repräsentanten des Kleinbürgertums schrumpfen lassen, zum Rädchen in der angepassten grauen Masse der Arbeiter in den Industriezentren Europas und 1860 und, konsequent weitergeführt, in die gleichermaßen das Individuum verachtenden Machtapparate der Diktaturen im 20. Jahrhundert.

Eine Uraufführung des unvollendeten Stückwerks seiner Oper im Jahr 1881 erlebte Jacques Offenbach selbst nicht mehr. Da verschiedene Lösungen für eine konsistente Darstellung existieren, ist die Inszenierung vor jeder Aufführung herausgefordert, sich für eine stimmige Version zu entscheiden. Im vorliegenden Fall bevorzugte die Regie die moderne (fünfaktige) Fassung von Michael Kaye und Christophe Keck. Da für den bunten Erzählreigen der Oper nicht beliebig viele Stimmen in den Hauptrollen zur Verfügung stehen, müssen diese in völlig unterschiedliche Charakterrollen schlüpfen, ein eigenes Kunststück, das Kammersänger Máté Sólyom-Nagy, den Stadtrat Lindorf, den dämonischen Coppelius, Dr. Mirakel, Dapertutto und andere Figuren in einem Schauspieler verkörpernd und immer wieder umgewandet mit Bravour einlöste.

Bewusst an die Slapstick-Rolle im Filmklassiker Der große Diktator anknüpfend gab Sólyom-Nagy Charlie Chaplin dank Sebastian Ellrichs brillantem Kostümarrangement täuschend echt, wie er auch den zynischen Dr. Mirakel glaubwürdig darstellte. Eine sängerische Glanzpartie war Jörg Rathmanns Einsatz ziemlich genau in der Mitte der Aufführung als ebenso wandelbarer dienstbarer Geist Frantzi in Rat Krespels sozialistisch drapiertem Wohnzimmer. Rathmann schlüpft selbst in diverse Rollen, etwa diejenige Nathanaels und Cochenilles.

Daniela Gerstenmeyers Übernahme der Antonia sorgte ebenso für nachhaltigen Applaus wie besonders am Ende des vierten Akts Jessica Rose Cambios Giulietta-Part. Die Automate Olympia mit den bewusst an die „Königin der Nacht“ in Mozarts Zauberflöte orientierten schwindelnd hohen Koloraturen setzte Danae Kontora, weltgewandte Sopranistin, in Perfektion um; schade nur, dass die erwartbaren eckigen Bewegungen der „Puppe“ nicht wie in anderen Inszenierungen zur Darstellung kamen.

Am meisten Einfühlung und Ausdauer verlangt freilich die Realisation des Dichters Hoffmann selbst; der in Kalifornien graduierte amerikanische Tenor Brett Sprague war in dieser Rolle bis zum letzten Akt stimmlich (und auch schauspielerisch) hochpräsent. Florence Losseau, in München ausgebildete Mezzosopranistin und in der Erfurter Hochzeit des Figaro den Cherubino spielend, brillierte ihm als Muse assistierend mit dynamisch-kraftvollem Register. Am Pult agierte in der zweiten Aufführung mit Temperament und treffsicher Stefano Cascioli, der in Mailand 2018 mit dem Divertimento Ensemble erfolgreich als Dirigent debütiert hatte.