Staatliche Unabhängigkeit ist das eine – die beiden nördlicheren baltischen Länder erreichten sie erst 1991. Künstlerische Souveränität dagegen lässt sich, auch wenn sie sich vorübergehend „im Untergrund“ behaupten muss, leichter erringen. In der Folklore dominierten lange die sicherlich ins frühe Mittelalter zurückgehenden Runenlieder, neuzeitlich abgelöst durch moderne Gesänge in endgereimter Strophenform.

Zwischen Johann Valentin Meder (1649 – 1719), einem Oratorienkomponisten, der nur vorübergehend in Reval, dem heutigen Tallinn wirkte, und gleichfalls dort befristet Karl Christian Agthe (1762 – 1797), ebenso deutschsprachiger Ausländer und Verfertiger komischer Opern nach dem Zuschnitt der Wiener Klassik, liegen Jahre scheinbar geringer Aktivität innerhalb der Kunstmusik.

Im Jahr 1680 erklang im damaligen Reval erstmals Meders deutsche Oper Resolute Argenia. Zum Ende des 17. Jahrhunderts hin wirkte Lovies Busbetsky, ein Schüler Diderik Buxtehudes, nachweislich als Organist in der deutschen Kirche des estnischen Narva. Nur zwei geistliche Kompositionen aus seinem Werk, die früher seinem Lehrer zugeschrieben wurden, sind erhalten: ein Erbarm dich mein für Sopran-, Alt-, Tenor- und Bassstimme mit Kammerorchester sowie ein Laudate Dominum für zwei Violinen, Fagott oder Violone und ein Continuo-Instrument.
Um 1740 begann eine deutsche Brüdergemeine großen Einfluss in Estland auszuüben und begründete hier die Chortradition des „Singvereins“. Davor verbleiben etliche weiße Stellen und Fragezeichen in der Musikgeschichte des Landes. Die Lücke, insbesondere diejenige von 1700 bis 1740 zu füllen, kann infolge der archivarischen Situation als Desiderat zunächst der estnischen, teils auch der postsowjetischen Musikwissenschaft bezeichnet werden.
Literatur u.a.
Max Peter Baumann (Hg.): Traditional Music in Baltic Countries. Berlin 2002.
Monika Topman: Musik in Estland gestern und heute. Tallinn 1978.
Tallinn: Konzertkalender 2019