Chiffren des Inkalkulablen

Manche Artefakte in der Musik, man denke an vielstimmige Chorwerke der späten niederländischen Polyphonie, Purcells Sonaten oder Schönbergs Sechs kleine Klavierstücke sind trotz des verstehbaren konstruktionstechnischen Hintergrunds so komplex, dass ihre Bauteile hinsichtlich Melos, Stimmenrelationen, Harmonik, Dynamik und Gliederung nur durch mehrere Zeichenparameter, also Ziffern, Klammern, Pfeile, Farbgebungen und andere klar voneinander unterschieden werden können. Durch Analyse kristallisierten sich aus methodischer Perspektive Formschemata heraus, zu denen unter vielen anderen der sogenannte Sonatenhauptsatz der Wiener Klassik zählt.

In einer Forschungsarbeit stellte Ewald Peiszer an einem Wiener Institut sein Beispiel einer automatisierten Werkanalyse u.a. nach Abschnitten und Tonarten vor (August 2007, GNU Free Doc. Lic., CC-Liz.).

Wenn es um mikroskopisch genaue Analyse im „werkanatomischen“ Sinn geht, die in Zukunft gerade programmierte Maschinen leisten können, kommt der Urheber selbst ins Spiel: Wie ein aus Interviewkontext gewonnenes Zitat des dänischen Frühromantikers J.P.E. Hartmann zeigt, der damit auch an Beethoven und die Ästhetik des Originalgenies im 18. Jahrhundert anschließt, ist der Prozess des Komponierens oft kein durch und durch bewusster Akt, sondern entspringt plötzlichen Einfällen, Assoziationen, Reminiszenzen, irgendwo aufgeschnappten Klängen: Die Aussage „Es flog mir einfach so zu“ deutet auf Kontingenzen des Lebens wie des künstlerischen Schaffens, für die auch ein seiner Techniken bewusster Komponist im Unterschied zur konstruierenden und dechiffrierenden Maschine häufig keine rationale Erklärung hat und daher eigenwillige Interpretationen aus sekundärer Analyse eines Kritikers oder Musikwissenschaftlers nicht bestätigen kann. Andererseits akzeptiert er (in der Regel), dass die Wahrnehmung durch Zuhörer und Partiturleser abweichende Voraussetzungen hat, mithin eine eigene, von der Individualität des Künstlers verschiedene Wirklichkeit repräsentiert.

Kontrapunktische Analysen reichen (wenigstens) bis zum Zeitalter von Johannes Tinctoris (ca. 1435 – vor 12.10.1511) zurück (Porträt, Valencia, Biblioteca universitaria, MS 835, BE p.d.).

Schließlich kommt es darauf an, zu welchem Zweck, sprich: aus welchem Erkenntnisinteresse analysiert wird: Seit der Antike spielt die Musiklehre eine Vorrangrolle: Der franko-flämische Musiktheoretiker Johannes Tinctoris untersuchte 1477 in seinem Traktat über den Kontrapunkt Werke seiner Zeit, um Beispiele zu vermitteln, die sich an andere Komponisten, aber auch Schüler richten. Mehr am Publikum einer Aufführung und den von ihm nachzuvollziehenden Inhalten orientierten sich Werkanalytiker im 19. Jahrhundert. Mit Heinrich Schenker setzte schließlich in Deutschland die wiederum der Lehre, darüber hinaus der Wissenschaft geschuldete Methodik ein, wobei er die Werkherkunft organisch aus einem Urkern erklärt. Ihm ist die sogenannte Schichten-Lehre, die beispielsweise in der Skalentonfolge zum Ausdruck kommt, zuzuschreiben.

Die Vielzahl der seither in erster Linie für den schulischen Musikunterricht im Sinn von „Handwerkszeug“ entwickelten Methoden erforderte von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an, im deutschsprachigen Raum beginnend bei Diether de la Motte und Clemens Kühn, eine grundlegende Systematisierung und Versuche der Bündelung von Methoden; einen musikgeschichtlichen Überblick kann man sich heute dank der Beiträge von Anna Magdalena Bredenbach verschaffen. Als ausgesprochen schwierig erweist sich freilich weiterhin die Normierung einer Strukturanalyse von (post-)avantgardistischen oder multimedialen Kompositionen.

Schon aufgrund der Selektivität individueller Forscherinteressen werden weiterhin bei jeder genuinen Analyse grundsätzlich verschiedene Ergebnisse erzielt: Was von Menschen mit Empathie und Emotion geschaffen wird, kann auch nur von Menschen für andere verständlich gedeutet werden.

Literatur u.a.
Reinhard Amon in Zusammenarbeit mit Gerold Gruber: Lexikon der musikalischen Form. Wien und Stuttgart 2011.
Anna Magdalena Bredenbach: Musikalische Analyse und ihre Figuren im musikhistorischen Kontext. (CC-Liz. BY-NC-ND 4.0, Schott Campus, Mainz 2016)
Clemens Kühn: Analyse lernen. Kassel, Basel, London u.a. 1993 mit zahlreichen Neuauflagen.

 


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