Nicht nur 2002: Rückschritte im Fortschritt

Ein vielversprechender Trend, der jedenfalls auf dem europäischen Kontinent noch nicht so ganz Fuß fassen konnte, ist die Verbindung zwischen Kunstvideo und Oper. In den Vereinigten Staaten, in Österreich dank seines Ideenpotenzials, ebenso in Griechenland oder Spanien, vor allem aber in Australien ist die pure Video-Oper schon fast Geschichte: Die dort deutlich fester etablierten experimentellen Szenen brachten wenigstens in den Metropolen ein innerhalb der letzten zwanzig Jahre um etliche Parameter erweitertes multimediales Musiktheater auf die Bühne.

Auf dem Weg zur Entwicklung eines intelligiblen Roboters wurde zunächst eine tierähnliche Kreatur geschaffen, die aber empathisch versagt (Leinwand-Snapshot Lutz Edelhoff, Probe am Theater Erfurt).

Das Theater Erfurt wagte, während etliche andere deutsche Bühnen nur die traditionelle, von Sängern, Chor, Ballett und Komparsen bestimmte Oper zeigen, nun wenigstens im kleineren Format – nämlich statt im Großen Haus im Raum des Studios – einen Zwischenschritt voran zum multimedialen „Gesamtkunstwerk“. Es inszenierte die in unserem Säkulum bereits historische Video-Oper Three Tales (entstanden zwischen 1998 und 2002), bestehend aus drei von gesungenen Worten aus der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments begleiteten Akten; diese erscheinen mit denkbar kurzen Atempausen hintereinander vorgeführt und erinnern bar jeglicher Theatralik an drei Katastrophen des 20. Jahrhunderts, den Absturz des Riesenluftschiffs Hindenburg, die amerikanischen Atomtests auf dem südseepazifischen Bikini-Atoll und zuletzt die fragwürdige Klonierung zum Schaf Dolly im Jahr 1998.

Der am Theater Erfurt durch ‚Madama Butterfly‘ und ‚Don Giovanni‘ seit längerem bekannte Peter Leipold dirigierte am 31. Januar 2019 mit großem Erfolg die Video-Oper ‚Three Tales‘ von Beryl Korot und Steve Reich (hier: Probenfoto, Lutz Edelhoff, Theater Erfurt).

Durch diese Auswahl wird dem Zuhörer und Zuschauer eine kritische Sicht auf den technologischen Fortschritt seit 1900 vermittelt. Diese ist im Jahr 2019 zwar nicht mehr topaktuell, wirft aber ein paar ungelöste Fragen auf: Welchen Preis zahlt die Spezies Mensch für die kein einzelnes bestimmtes Ziel verfolgende technologische Entwicklung? Was die weltweite Klimaveränderung betrifft, ist die Grenze des Erreichbaren unter den spezifischen Bedingungen auf dieser Erde durch erlittene Katastrophen und die auf dem Planeten überall greifbare Erwärmung schon großenteils definiert. Woran es nach wie vor mangelt, ist eine global verbindlich angenommene Ethik und die Umsetzung selbsterhaltender Maßnahmen der Menschheit in allen Erdregionen.

Malerin und Video-Künstlerin: Beryl Korot spricht an der Ohio State University (Vimeo).

Der anhaltende Applaus des Publikums nach der etwas mehr als eine Stunde dauernden Aufführung galt freilich weniger den etwas in die Jahre gekommenen polarisierenden Prämissen des „Librettos“. Vielmehr wurde damit einmal die meisterhafte Dramaturgie des audiovisuellen Gesamtkunstwerks aus den Händen der Videokunst-Pionierin Beryl Korot und ihres zum engeren Kreis der minimalistischen Komponistenschule gezählten, aber stilistisch wie in der Wahl der Genres und Formen weit darüber hinausgehenden Ehemanns Steve Reich geehrt.

Den Männerchor des Abends bildeten die erfahrenen und dramatisch insistierenden Sängerstimmen Tobias Schäfers, Paul Suttons und Andreas Karasiaks (Lutz Edelhoff, Theater Erfurt).

Das gleichmäßig pulsierende Metrum, verstärkt durch minimalistisch repetierte Kurzmotive, karikiert das mechanistische Weltbild einer absolut gesetzten Evolutionslehre samt ihrer sozialdarwinistischen Implikationen. Es bildet rein äußerlich den Basso ostinato zu den eigenwillig geführten Gesangspassagen des antiphonal positionierten Frauen- und Männerchors, mit denen die Streicher teils unisono konzertieren. Bei genauerem Zuhören wird man im zweiten Akt, in dem es um die bis heute keineswegs abgeschlossenen Atomversuche geht, die Zitation eines vertrauten aufsteigenden Melodiefragments der Arie Erbarme dich aus J.S. Bachs Matthäus-Passion wiedererkennen.

Die portugiesische Sängerin Leonor Amaral (links im Bild), bekannt aus einer der Hauptrollen in ‚Fra Diavolo‘, sekundiert im Chor der weltweit dozierenden und auftretenden Sopranistin Marisca Mulder (rechts; L. Edelhoff, Theater Erfurt).

Noch mehr galt der Beifall wohl der Aufführung durch den Pianisten und Komponisten Peter Leipold als dynamische wie agogische Akzente setzender, nachschöpferischer Dirigent (im Hauptberuf), der Streicherauskoppelung aus dem Philharmonischen Orchester Erfurt, den Gastmusikern an den Perkussionsinstrumenten, allen voran der Vibraphonist Alejandro Coello Calvo zusammen mit seinem deutschen Kollegen Kilian Hartig sowie den Schlagzeugern Bumtae Kim, Dimitrij Nedelev, Bernabás Fekete und René Münch.

(Auch) den Cello- und Violapart in der Video-Oper bestreiten Musikerinnen und Musiker des Philharmonischen Orchesters Erfurt (L. Edelhoff).

Die in ihrer Deklamation höchst komplexen Sprech- und Gesangsparts übernahmen auf der – vom Zuschauer aus gesehen – linken Seite der Bühne das Sopran-Duo Leonor Amaral und Marisca Mulder, auf der rechten der in Sydney geborene Sänger Paul Sutton, der zum Erfurter Opernchor zählende Dresdner Vokalist Tobias Schäfer und Andreas Karasiak, der schon an zahlreichen Einspielungen mit den renommiertesten Dirigenten und Orchestern Europas mitwirkte. Für die Regie und Einstudierung zeichnete der Pianist Ralph Neubert in Verbindung mit Miren Casado, Chanmin Chung und Yuki Nishio verantwortlich.

Three Tales: Weitere Termine im Studio
2.2.,9.2.,23.2.,20.4.2019: jeweils um 20 Uhr
3.3.,7.4.2019: jeweils um 15 Uhr
24.3.2019: um 18 Uhr

Spielplan des Theaters Erfurt in der Saison 2018/2019


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