Eine Melange aus Eigenheiten russischer Musik der frühen Moderne und brasilianischer Folklore auf der Basis von Musiklehre aus Deutschland – das gibt es nicht alle Tage. Sie ereignete sich aber exzeptionell im Schaffen des 1919 in Manaus, der Kapitale der Amazonasregion geborenen Dirigenten und Komponisten Cláudio Santoro. Neben seinem in Rio de Janeiro ansässigen Lehrer Hans-Joachim Koellreutter war er es, der auch im theoretischen Sinn der Entwicklung der klassischen brasilianischen Kunstmusik wesentliche neue Impulse verlieh.

Santoro hatte Brasilien nach seinen Studien, die ihn zwischenzeitlich auch nach Paris an den Lehrstuhl von Nadja Boulanger führten, aus politischen Gründen 1966 den Rücken gekehrt und war nach Deutschland gegangen. Außer anderen Tätigkeiten versah er eine Stelle als Kompositionsprofessor an der Musikhochschule Heidelberg-Mannheim. Zunächst hing Santoro der Zwölftontechnik an, die seine frühesten (edierten) Werke beherrschte. Die Teilnahme am Prager Kongress Progressiver Komponisten 1948 brachte ihn von dieser Richtung ab, denn von da an nahm er sich stilistisch des Lyrismus Prokofjews und Schostakowitschs an und widmete sich intensiv der Volksmusik seiner brasilianischen Heimat.
Diese Haltung änderte sich erst um die fünfzehn Jahre später, als er wiederum an den Serialismus anknüpfte und, um mit neuesten Entwicklungen Schritt zu halten, Elektronik (man denke an den Aufenthalt in Paris nahe dem IRCAM-Zentrum) und Computertechnik in sein Schaffen einbezog.

Die vielfältigen Einflüsse in seiner Musik, die auf sich wandelnde Interessensschwerpunkte beziehen lassen, lassen sich an seiner Suite Brasilia von 1986 ebenso wie am Konzert für Viola und Orchester aus dem Jahr 1988 hörend nachvollziehen. Mit ersterem Werk untrennbar verbunden ist Santoros persönliche Gründung des Symphonieorchesters am neuen Teatro Nacional in der ebenso gleichermaßen als futuristisches Projekt „auf dem Reißbrett“ entstandenen Hauptstadt Brasilia; heute trägt das Theater selbst seinen Namen. Die Zeit als Theoriedozent in Mannheim war beendet, als er 1979 den Posten des Chefdirigenten dort antrat, der ihn bis zu seinem Tod 1989 nicht mehr losließ.

Unvergessen bleibt Cláudio Santoro nicht nur wegen der kulturpolitisch so wichtigen Orchestergründung, die international ausstrahlte, sondern auch wegen seiner kunstmäßigen Behandlung der populären Musik seines Landes, die er gewissermaßen „augmentierte“, indem er etwa – worauf Thomas Kupsch nachdrücklich anhand von Beispielen verweist – Alterationen gebrauchte und den im Original vorhandenen Akkorden zusätzliche Terzen¹ zur harmonischen Anreicherung beifügte. Die spezifische Harmonisierung vorhandener Melodien und Arrangements lässt dabei eine deutliche Nähe zu diversen populären Musikstilen, unter anderem zum cool jazz und zum (traditionellen) Bossa Nova erkennen.