Hoffnung, Verrückung und Erlösung

Im Mittelpunkt des Konzerts am gestrigen Donnerstagabend standen Peter Maxwell Davies‘ Eight Songs for a Mad King, sicher nicht widerstandslos uraufgeführt Anno 1969. Extreme an den Rändern und den Spitzen der Gesellschaft, Inhalte wie die Tiraden eines verrückt gewordenen Königs zum Beispiel muss aber eine pluralistische Kulturlandschaft schon aushalten – sie tat es bereits im Falle von Shakespeares skurril-grotesken Herrscherfiguren. Dies bedeutet nicht, dass das Publikum nicht dagegen protestieren sollte, oft ist Widerwille ja geradezu erwünscht: Man denke etwa an die von Franz Xaver Kroetz‘ Stücken bewusst provozierten Theaterskandale seit Ende der 1970er Jahre.

Spätestens gestern, am 18. Oktober 2018, trat mit Stephanie Appelhans eine der sicherlich jüngsten Konzertmeisterinnen der Republik, ihren Dienst in der Eigenschaft als erste Violinistin für das Philharmonische Orchester (hier auf der Treppe zum Parketteingang des Theaters Erfurt, Lutz Edelhoff 2018) an.

Der angesichts der Partitur (nach einem Libretto von Randolph Stow) erforderliche stimmliche Umfang der Baritonpartie von fünf Oktaven konnte von kaum jemand anderem besser geleistet werden als dem Kammersänger Máté Sólyom-Nagy. Dieser spielte, sekundiert von dem unter Samuel Bächlis Leitung hochpräzise spielenden Kammerensemble des Theaters Erfurt, die in den Zeugnissen sicher verzerrt überlieferte Figur des gealterten englischen Königs George III. (1738 – 1820) mit einer dem Zustand manischen „Flows“ angemessenen Realistik höchst glaubenswürdig und beängstigend „lebensnah“. Man erinnert sich an die „wahnsinnig“ gewordenen Charaktere, die die Weltliteratur, insbesondere die Dramatik, seit Aischylos bevölkern. Die materielle Basis der Komposition bilden Stücke von König Georges mechanischer Orgel, mit denen er seinen Gimpeln das Singen lehren wollte.

Peter Maxwell Davies (1934 – 2016), Komponist der ‚Eight Songs for a Mad King‘ beim Stimmenstudium (Clestur, September 2005, p.d.)

Die (pathologischen) Momente und Imaginationen des halbblinden und im Falle der wirklichen Person seit 1811 dementen Königs sind dabei keineswegs bloße Fantasien. Sie führen in Analogie zu den Tänzen und Liedern der Orgel von der preußischen Schildwache über eine ländliche Promenade, vom Gespräch mit einer gebildeten jungen Frau und dem Traum von seiner königlichen Gattin bis zur eingebildeten Beobachtung von Dorfbewohnern bei der Vorbereitung eines Festes. Hört man die einzelnen Betrachtungen und Selbstreflexionen des Königs für sich, erscheinen sie überwiegend in sich durchaus logisch und als Reaktionen auf die Diagnose und Behandlung der Ärzte überaus plausibel; auch die Aussage, er sei nicht krank, sondern nervös, ist weniger Ausdruck von Wahnsinn, sondern dient dem (verzweifelten) König zum Selbstschutz seiner Persönlichkeit. Auf der Bühne arten die Ausfälle des Protagonisten in blanke Aggression aus: Wütend stürzt der Sänger die Notenpulte um und zertrümmert eine Geige auf dem Boden.

Gespielt und gesungen von Bariton Máté Sólyom-Nagy: Zu den Stimmen seiner Gimpel (echtes Tier im Bild), verkörpert von einem Kammerensemble mit Perkussion, deklamiert der König acht Monologe (20.5.2015, Mike Prince, CC-Liz.).

Sinnfällig erschien die Zusammenstellung des Programms durch den Dirigenten Samuel Bächli: Zu Beginn erklang Strawinskys symphonisches Stück Funeral Song (1908) anlässlich des Todes seines verehrten Lehrers Rimsky-Korsakoff, das mehr als 100 Jahre nach seiner Niederschrift endlich gefunden und durch Valery Gergiev Ende 2016 wiederaufgeführt werden konnte. Getragenen Duktus weisen die Anfangstakte dem Trauerzug gemäß auf, doch kommen heitere und von der Freude über das Werk des verstorbenen großen Komponisten geprägte Abschnitte hinzu, die angesichts der Tatsache, dass das Begräbnis an einem Junitag stattfand, von einer frühlinghaften Hoffnung und Zuversicht getragen werden. Auf die Mischung der Stimmungen folgt dann die wahrhaft antike Tragödie in der Person des verrückten Königs.

Statue von König George III., Regent über das Vereinigte Königreich und Hannover (Graemev2, 8.9.2013, CC-Liz.)

Entspannung und Erlösung von den Schrecken der Tragödie versprach ähnlich der Funktion des griechischen Satyrspiels nach der Pause die Jupiter-Symphonie aus dem Jahr 1788, die in elysische Gefilde entführte. Das Philharmonische Orchester zeigte sich bestens vertraut mit der durchaus komplexen Partitur, die ihre Besonderheit als eine der drei letzten Sinfonien Mozarts, wie Wulf Konold schrieb, der Integration von Homophonie und Polyphonie verdankt. Doch nicht erst in diesem, in etlichen anderen seiner Orchesterwerke „verselbstständigen“ sich fugierte und auf strenger Imitation beruhende Motive in barocker Manier inmitten eines klassischen Sonatensatzes.

Triumphales und bewegtes Finale: Auch der vierte Satz, Molto allegro, der Symphonie Nr. 41 von W.A. Mozart verdeutlicht die Integration von klassischen und barocken Elementen (Moderne Partitur aus dem Original vom 10.8.1788, p.d.).

Mehr oder weniger bewusste Reminiszenzen an J.S. Bach ließen sich ebenso wie an manchen Aspekten der Posthorn-Serenade, etwa am Gestus oder an der Instrumentation und andernorts in der hier gespielten Sinfonie vielfältig nachweisen; das Menuetto mit seinen regelmäßigen marschgemäßen Paukenschlägen, auf die Samuel Bächli deutliches Gewicht legte, forderte den Vergleich vor allem mit der dezidiert repräsentativ-gravitätischen Ouvertüre von Bachs 1. Orchestersuite in C-Dur geradezu heraus. Ein weiterer wunderbarer Effekt der Interpretation dieses Abends, die insgesamt auf genaues Metronom ausgelegt war, bestand auch in subtilen Details, etwa dem, dass ihr Dirigent die ersten Takte des Andante cantabile wie aus weiter Ferne sacht einfliegen ließ …

Spielplan des Theaters Erfurt