Hängt es möglicherweise mit der historischen Kongruenz von Haus- und Kammermusik zusammen, dass ein namhafter australischer Musikwissenschaftler, Larry Sitsky, Komponisten in Bausch und Bogen als Pragmatiker bezeichnet, die für (unmittelbar) verfügbares Instrumentarium schreiben, nach passenden Gelegenheiten, die sich nicht vorrangig nach Kalender- oder Kirchenjahr richten, sondern mehr nach persönlichen Bezugnahmen und den Umständen vor Ort: Wo nur Orgel, Chor oder Geige vorhanden ist, wird eben darauf gespielt und dafür komponiert. Wer Beziehungen nutzen kann, erhält Aufträge von Orchestern für Musik, die gerade gefragt ist und aus oft alltäglichen, jedenfalls naheliegenden Gründen gebraucht wird.

Im Falle der australischen Kammermusik, die vornehmlich in Metropolen wie Sydney, Melbourne und Canberra entsteht, ist es auffällig, dass Musikschaffende im 20. Jahrhundert häufig auf allgemeinere, weniger formell begrenzte Gattungen wie Lied mit Klavierbegleitung, Violin– und Klaviersonate, gelegentlich auf ältere wie Suite (Carl Vine), Invention (Eric Gross), Prelude (Andrew Schultz), Variation (Malcolm Williamson) und Trio (Nigel Westlake) zurückgriffen oder noch unspezifischere Bezeichnungen wie Miniature (Carl Vine) wählten.
Die Vertreter jüngerer Generationen finden heute überwiegend freie und gänzlich formunabhängige Titel nach dem Anlass der jeweiligen Inspiration, einer abstrakten Idee oder eines ganz konkreten Ereignisses; hierfür mögen etwa Ian Shanahan, Raffaele Marcellino, Paul Stanhope und Sophie Lacaze stehen.

Noch Phyllis Campbell (1891 – 1974) ließ sich vor allem von der Umgebung anregen; daraus entstanden zwischen 1925 und 1928 ihre Nature Studies für Klavier allein; Unfolding Rose (1926) für Violine und Klavier spiegelt ebenso diese schon beinahe meditative Ausrichtung. Ebenso ging Ann Carr-Boyd von Naturbildern aus, zum Beispiel in dem Stück On the Shores of Aswan für Klarinette und Klavier sowie der dreisätzigen Suite für Cello und Klavier Beneath the Yellow Moon (2004). Die Kultur und Naturverbundenheit der Aborigines wurde vor allem von Peter Sculthorpe in eigenständige Kompositionen integriert oder bildet überhaupt erst deren Ausgangspunkt.
Es sollte dabei nicht vergessen werden, dass genuin europäische Formen auch von den freiwillig oder gezwungen ins australische Exil gegangenen Musikern mitgebracht wurden, darüber hinaus ihre religiöse Musik. Lyrisch geleitete Liedkunst repräsentieren Larry Sitskys Einzelkompositionen aus größeren Zyklen, beispielsweise Napoleon, Cabaret Song und The Lady of Hsiang. Auch sonst überwiegt im 20. wie im 19. Jahrhundert das Kunstlied, das teils folkloristische Voraussetzungen hat, andernteils aus Gedichten zeitgenössischer, häufig mit Sprache experimentierender Autoren gespeist wird.

Tendenzen zu Motiven asiatischer Lebenswelten und zu deren zunächst völlig fremden musikalischen Mustern prägen neben den Einflüssen aus der europäischen und US-amerikanischen Avantgarde in der Gegenwart nicht nur das Werk der jüngsten Komponist/inn/en, die selbst teilweise oder gänzlich anderer, chinesischer, japanischer oder indonesischer Herkunft sind und die Formen aus ihren Herkunftsländern in Australien imitieren und variieren, häufig im Zusammenhang mit elektronischer (Video-)Performance. Impressionen von Java und Bali bilden aber bereits vor 2000 die Quelle für etliche Stücke von Betty Beath: Die Exotik der Fremde transportierten etwa Lagu Lagu Manis für Violoncello und Klavier und Nawang Wulan – Guardian of Earth and of Rice für Altflöte und Klavier.
Literatur u.a.
Albrecht Dümling: Die verschwundenen Musiker. Jüdische Flüchtlinge in Australien, Köln/Weimar/Wien 2011.
Fiona Richards (Hg.): The soundscapes of Australia. Music, Place and Spirituality. Aldershot 2007.
Larry Sitsky: Australian Chamber Music with Piano. Canberra 2011.