Die genaue Einhaltung des Metrums, namentlich in Gesangspartien, war kaum jemals geltende Konvention der musikalischen Praxis, abgesehen vielleicht von mancher strengen monodischen Liturgie der Kirche. Ganz im Gegenteil: Die freie Nutzung einer vorgegebenen Melodie oder eines Notentexts als partikulare und weitergehende Improvisation (hinsichtlich der Zeitwerte) war in allen Kulturen die Norm, zumal in folkloristischen Zusammenhängen, seien es Tänze oder Lieder.

Auch wenn sich etwa seit 1830 die Anweisung ritardando und im Gegenzug dazu rallentando für Verlangsamung und Beschleunigung des Spiels durchzusetzen begannen, galt doch wenigstens seit der Regel des Ordensmanns und Sängers Ludovico Zacconi, also von 1592 an, das Tempo rubato als Hinweis auf eine Lockerung, d.h. Dehnung oder Stauchung der Notenwerte. In den Noten selbst blieben Notenwerte und Metrum unverändert, lange Zeit wurden Synkopierungen damit nicht ausgeschrieben; vielmehr können diese als Merkmal (spät-)romantischer Werke angesehen werden, in denen die Komponisten detaillierte Vorstellungen von der Realisation akribisch zu Papier brachten, wofür Max Regers genaue Ausführungsvorschriften bei sämtlichen Parametern hier als Gipfelpunkt gesehen werden kann.

Eine exakte Lehre des gebundenen Tempo rubato lieferte auf der Basis von Zacconis Regel 1723 der ehemalige Sängerknabe und Gesangslehrer Pier Francesco Tosi (1654 – 1732) im Zuge einer diplomatischen Europareise: Die „Tonverziehung“, so die deutsche Bezeichnung aus dem 18. Jahrhundert, ist über einer rhythmisch und metrisch unveränderten Basslinie legitim. Carl Philipp Emanuel Bach beschrieb diese Manier, an die sich noch Frédéric Chopin hielt, im Anschluss ebenso wie Leopold und Wolfgang Amadeus Mozart, letzterer in einem Brief aus dem Jahr 1777.

Die freie Variante des Rubato beruht auf nahezu ebenso alten aus der Praxis gewonnenen Lehren: Girolamo Frescobaldi beschrieb die bassunabhängige Modifizierung in einem Traktat aus dem Jahr 1634, der britische Komponist und Sänger Thomas Mace 1676. Den Gebrauch des „unabhängigen“ und willkürlichen ritardando oder rallentando beim Klavierspiel führte Karl Czerny in seiner Schule aus. Hugo Riemann ordnete die Spiel- oder Singanweisung unter dem Dach-Terminus Agogik ein. Gerhard Mantel sieht das Rubato als behutsam und begrenzt einzusetzendes Stilmittel¹, das in der Spätromantik gängig wurde, aber wenigstens im Bereich des klassischen Instrumentalunterrichts bis heute moderat und „agogisch stimmig“ einzusetzen ist – anders als in mancher avantgardistischen Komposition in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis hin zur Aleatorik oder in populären und manchen folkloristischen Musikpraxen beabsichtigt.