Langzeitaneignung der Stile

Der Bundesstaat Santa Catarina beherbergt mit Brusque das eigentliche Zentrum der Textilindustrie im Süden Brasiliens. Wenige wissen, dass in der 1860 erst gegründeten, aber rasch wachsenden Stadt mittlerer Größe, wohl wegen der Einwanderer aus Schleswig-Holstein und Pommern, vielleicht aus Baden, auch die protestantische Kirche eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt; aus der dortigen Gemeinde ging mit Lindolfo Weingärtner ein Professor für praktische Theologie, der ebenso als Dichter einen Namen hatte, hervor.

Édino Krieger als Dirigent des Nationalen Symphonieorchesters Brasiliens (1.5.1962; John Mozart, CC-Liz.)

Diese nicht weit von der Atlantikküste gelegene Bierbrauerstadt kann sicherlich nicht als Inbegriff einer Kulturmetropole gelten, doch studierte am dortigen Konservatorium immerhin der spätere bedeutsame Komponist und Dirigent Édino Krieger, Jahrgang 1928, unter anderem das Geigenspiel bei seinem Vater Aldo, dem Leiter der Institution. Durch das Sprungbrett Rio de Janeiro – als Schüler von Hans Joachim Koellreutter – gelangte er an die Talentschmiede Tanglewood, wo er sich bei Aaron Copland weiterbildete, dann an die New Yorker Juilliard School zu Peter Mennin, bevor er später für einige Zeit den Ozean überquerte und die Londoner Royal School of Music bei Lennox Berkeley besuchte.

Im Gegenlicht: Aus Brusque, der Geburtsstadt des Komponisten Édino Krieger (Palmeiras em Contraluz, SandroSalomon, 14.7.2013, CC-Liz.).

Die erste „Odyssee“ des Musikers hatte mit seiner Rückkehr nach Brasilien 1949 ein Ende, so dass er sich dank seiner Vorbildung in vielfältiger Weise am Ausbau des brasilianischen Musiklebens beteiligen konnte: Nach Arbeiten für den Rundfunk managte er das Orquestra Sinfônica Nacional und wurde Musikkritiker einer großen Tageszeitung. Erst im Verlauf der 1950er Jahre begann er sich intensiver der tonal basierten, an brasilianischen Traditionen ausgerichteten, aber experimentellen Komposition zu widmen, was den Abschied von einer Phase der Orientierung an seriellen Techniken, der die Rezeption spätromantischer Stile und des Neoklassizismus vorausging, markierte. Daraus entstanden 1965 seine Variações Elementares, die 1965 auf dem 3. Interamerikanischen Musikfestival in Washington uraufgeführt wurden.

Applaus bei der XXI. Biennale der Brasilianischen Gegenwartsmusik 2015 mit dem Dirigenten Simone Menezes und dem Bariton Marcelo Coutinho (Foto: Janine Moraes, Ministério da Cultura, 18.10.2015)

 

Aufmerksamkeit bei einem internationalen Publikum erlangten nach den Telas Sonoras (1997) für Streichquartett Embalos (1999) für Bläserquintett und im selben Jahr das symphonische Gemälde Terra Brasilis anlässlich der Feiern zum 500. Gedenktag der Entdeckung Brasiliens. Die 37. Internationalen Winterfestspiele in Campos de Jordão 2006 boten die Gelegenheit zur Welturaufführung der für Orchester geschriebenen Ritmetrias. Zur Erinnerung an den Umzug des portugiesischen Hofs nach Brasilien 200 Jahre zuvor komponierte Krieger 2007 eine Abertura Solene („Feierliche Eröffnung“) für Orchester. Als wegweisend in kulturpolitischer Hinsicht gilt bis heute seine Organisation der Biennale der Brasilianischen Gegenwartsmusik.


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