Carmen ist nicht gleich Carmen: Vielmehr verfolgte Guy Montavon mit seiner Erfurter Neuinszenierung der Bizet-Oper zwei Ziele und mithin die Bewusstmachung weltweit anzutreffender Missstände, erstens (drastisch) greifbar in der erst vor einem Jahr von Behörden angeordneten Räumung der Frankfurter Gutleut-Brache mit Gebrauchtautos, in der Roma und Sinti lebten – und in eine viel zu kleine immobile Behausung zwangsumgesiedelt wurden. Zum zweiten machte er durch die Aufschrift „Freiheit ist ansteckend“ auf dem Bühnenbild auf die Tendenz zur Überwachung und Überregulierung sowie den teils flächendeckenden Rückzug ins Private aufmerksam, der in diesem Land auf dem Vormarsch ist.

Freilich lassen Mérimée, Meilhac, Halévy und Bizet mit ihrem Novellen-, Libretto-und Opernstoff auch die Kehrseite der Medaille erkennen: Gelebte Freiheit – in Person der Zigeunerin und der ihr zugeschriebenen Eigenschaften – kann Selbstaufgabe bedeuten, wo sie Utopie bleiben muss, in einer Gesellschaft, in der sie nämlich „keinen Platz“ finden kann. Freiheit zur und in der Liebe und Tod liegen in dieser Figur, die nicht nur zum Mythos wurde, sondern gleichermaßen einen Metatypus vom Rand der „Zivilgesellschaft“ darstellt, nahe beieinander.
In seinem (hoffentlich weiterhin) epochemachenden Buch Europa erfindet die Zigeuner zeichnet der vom Theater Erfurt anderweitig zitierte Bielefelder Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal die stofflich-motivische Kulturgeschichte des „fahrenden Volks“ auf unserem Kontinent nach, die die selbstbewusste, männerwählende Carmen selbstverständlich einbezieht und dabei den Text(-hintergrund) auch einer kritischen Revision unterwirft: „Die Fremdheit der Zigeuner, in der Novelle immer auch die Fremdheit des anderen Geschlechts, kann weder durch Anpassung und Erziehung noch durch Gewalt überwunden werden.“ Leider bestätigt Mérimée indirekt ein vorherrschendes Klischee, indem er „ethno-hygienische Vorstellungen“ zu bestätigen scheint, „die den frühen Tod Carmens im Nachhinein als sinnvolle >Säuberung< erscheinen lassen […]“.¹

Durch dreifaches Klopfen auf eine „Adenauer“-Dienstlimousine, mit der er sich vor den Domstufen einfuhren ließ, läutete Guy Montavon als Chefintendant des Theaters mit ironischem Hinweis auf den Diesel-Status des antiquitätsverdächtigen Wagens die neue Saison ebenso wie die Premiere dieses Freitagabends ein.

Gleichzeitig bedeutete dies den Auftakt für den neuen ersten Mann am Erfurter Pult, den weitgereisten Kreter Myron Michailidis, der einst in Athen Klavier, dann in Berlin Dirigieren studiert hatte und unter vielem anderen zu den Olympischen Spielen in Peking als Orchesterleiter aufgetreten ist.
Er leitete das Erfurter Philharmonische Orchester mit temperamentvollem Schwung durch die Klippen der nuancenreichen Partitur, ohne die überaus bekannten Arien und Chorteile rhythmisch und dynamisch überzuakzentuieren. Für die Premiere war es ein glücklicher Umstand, dass die Musikerinnen und Musiker Michailidis‘ Interpretationsansatz bereits mehrfach kennengelernt hatten, beachtlich nicht zuletzt die außerordentliche Leistung des Orchesters und aller Sängerinnen und Sänger angesichts der in einbrechender Dunkelheit noch zunehmenden Sommerhitze.

Dem Hintergrund der Frankfurter Räumung 2017 weitestmöglich entgegenkommend hatte Hank Irwin Kittel die tiefräumige Bühne entworfen: Der Autoumschlagplatz wird durch übereinander getürmte Altwagen repräsentiert, zwischen denen zeitweise (an dramatisch aufgeladenen Stellen der Oper) Rauch aufsteigt und Lichtblitze zucken. Hinter mit Graffiti-Szenerien bebilderten hohen Absperrungen ereignet sich das Leben der Zigeuner. Hier bekennt sich Carmen zu ihrer Wahl der freien Beziehungen, entscheidet sich für eine „Affäre“ mit dem einfachen Brigadier Don José, turtelt aber auch mit höhergestellten Soldaten. Die gesellschaftlich Diffamierte kann eben wegen der kulturellen Differenz² Liebe nicht verwirklichen, sondern „muss“ sich für Freizügigkeit entscheiden.

Katja Bildt setzt den Typus der begehrenden und begehrten Frau auch schauspielerisch gekonnt um. Das Leben an einer von der Mehrheitsgesellschaft und ihren Vertretern so definierten „Schrotthalde“ plausibilisiert Vulgarität, die hier ausgespielt wird. Sängerisch brillieren Katja Bildt und Won Whi Choi in diversen Registern, vom rezitativischen Bänkel(sprech-)gesang über die anmutigen, ironiegewürzten Arien, etwa der berühmten Habanera, bis zum „spontan“ leidenschaftlichen Freude- und Klagelied. Für einen stimmlich und auch sonst imposanten Auftritt (nicht nur) mit der Torero-Arie sorgte der südafrikanische Basssänger Mandla Mndebele als Escamillo, der an dem Abend erstmals in Erfurt zu hören war. Zu den kommenden Aufführungen werden am Pult außerdem Samuel Bächli und Chanmin Chung erwartet.
Weitere Termine: 4.-12.8.2018, 14.-20.8.2018, 21.-26.8.2018 jeweils täglich 20 Uhr