Nur scheinbar unscheinbar: Abseits von den großen Sälen ging es im Festsaal des Kultur-Hauses Dacheröden anlässlich einer 11-Uhr-Matinee der Orchesterakademie des Theaters Erfurt ganz und gar unkonventionell zu: Drei ausgewählte Kammermusikwerke des 20. Jahrhunderts, die ziemlich selten zu hören sind, füllten den eher überschaubaren Raum. Die junge nachrückende Avantgarde des Theaters stellte dabei insbesondere der dritte Konzertteil, Luciano Berios knifflige Folk Songs für Mezzosopran und sieben Spieler, vollbrachte dabei eine sowohl künstlerische als auch technische Meisterleistung.

Den Auftakt machten nach einführenden Worten von Orchesterdirektorin Dr. Ute Lemm der taiwanesische Perkussionist Hsiao-Hung Lee am Vibraphon und Jaegyung Lee am Violoncello mit dem strukturell an Bachs Inventionen und Sinfonien erinnernden Stück Spiegel im Zelt von Arvo Pärt, dem ökumenischen Kirchenmusikkomponisten par excellence. Das Spiel des Vibraphons gilt hier scheinbar simplen Dreiklangbrechungen, die noch dazu in unverrückbarem Metrum ablaufen, doch steckt dahinter das mathematisch beschreibbare Modell von Pärts „Tintinnabuli“-Stil, der in der Natur (der Zahl) Vorhandenes nur exponiert – gleichsam als ästhetische Entäußerung des Prinzips „natura naturans“. Die summende und singende Stimme des Cellos mit seiner gedehnten elegischen Melodie, einfühlsam wiedergegeben von Jaegyung Lee, bildet hier den freien künstlerischen Kontrapunkt zu dem kalkuliert einfachen harmonischen Gerüst.

Völlig im Kontrast dazu der zweite Teil der Matinee: Bohuslav Martinůs Nonett Nr. 2 aus den 1930er Jahren,entstanden also vor seiner präventiven Flucht aus Paris vor den Nationalsozialisten, die sein Werk als entartet verfemten, in die USA ist eher ein Vexierspiegel des Möglichen, die vier Sätze bilden, nicht zuletzt im Sinne neoklassizistischer Modelle, ein von ständig wechselnden Einfällen geprägtes Memoryspiel mit vorhandenen Formen, insbesondere böhmisch-tschechischer Musik für Bläserbesetzungen der Romantik, die Jagdfanfaren ebenso einschließen wie flüchtige humoristische Porträts. Die harmonische Basis führt allerdings weit von solchen Reminiszenzen hinein in die Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Streichergruppe inklusive Kontrabass wurde hier technisch perfekt ergänzt durch den Querflötisten Fabian Franco-Ramirez, Jacob Giesing am Fagott, Alexandra Mukhina an der Oboe und von dem Klarinettisten Moritz Pettke.

Samuel Bächli, Dirigent von Luciano Berios Folk Songs, komponiert 1964, schickte im Gefolge seiner Einstudierung des ziemlich umfangreichen Zyklus zur Matinee einige Worte voraus, die sowohl das Instrumentarium betrafen als auch Entstehungszusammenhänge des Werks. Die Folk Songs basieren zum geringsten Teil tatsächlich auf Volksweisen. Zwei Songs gehen auf den Amerikaner John Jacob Niles zurück, auf armenische (von Berios Frau inspirierten) und aserbeidschanische Musik, dann auf Berios eigene Ideen statt auf „anonyme“ Weisen und auf eine weiteren Fälschung, denn dem Komponisten sei kaum abzunehmen gewesen, dass er eine der Melodien auf einer im Sand verborgenen Shellack-Platte entdeckt habe. Dem klassisch-modernen Perkussionsapparat des ansonsten traditionell besetzten Septetts wurden zwei Federungen eines alten Autos hinzugefügt …
Opernmezzosopranistin Katja Bildt konnte den abenteuerlich schwierigen lyrischen Gesangsparts mit großer stimmlicher Spannbreite und Ausdrucksvarianz so viel abgewinnen, dass die jeweilige Stimmung des einzelnen Liedes auch ohne Verstehen der Worte nachvollziehbar wurde, einmal tänzerisch- schwungvoll, dann klagend-elegisch. Sowohl in rhythmischer als auch in spieltechnischer Hinsicht ist die kammermusikalische Partitur für jeden Musiker, sei er jünger oder erfahrener, eine absolute Herausforderung. Beim voluminöseren Einsatz vor allem der links und rechts platzierten Perkussionsinstrumente stieß die Raumakustik fast an ihre Grenzen.

Im Anschluss an die Matinee hatten die Gäste im Rahmen des musikalisch-literarisch-kulinarischen Sonntags Gelegenheit, weitere Musik, insbesondere des 19. Jahrhunderts in kammermusikalischen Arrangements auf verschiedene Räume wie die Kleine Galerie, das Musikzimmer, den Bürgersaal und den Blauen Salon verteilt, zu erleben: Dabei waren unter anderem Streichquintette der für das Haus auch bedeutsamen frühromantischen Ära von George Onslow und Franz Danzi, aber auch moderne Stücke wie Stuart Sacks‘ Gospel Reflections und Mark Glentworths Blues für Gilbert. Auch Literaturinteressierte kamen auf ihre Kosten: Im Bürgersaal sind die Brautbriefe von Caroline von Dacheröden und Wilhelm von Humboldt zu sehen, im Blauen Salon wurde der Briefwechsel zwischen Caroline von Humboldt und Christian Daniel Rauch in einer Lesung vorgestellt. Zu allem steuerte Café Lobenstein das Kuchenbüfett bei.
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