Aus der Glaskugel geplaudert

Wenigstens von den Blog-Aktivitäten innerhalb der Popmusik kann die vorausschauende Musikwirtschaft profitieren, da es etwa mit Hype Machine Vorhersagemodelle für Trends gibt, die erst am Anfang ihrer Entwicklung stehen. Darauf wies erst kürzlich Arne-Christian Schmitz in seiner Bachelor-Arbeit über das Produzenten-Duo The Chainsmokers hin. Ganz so einfach sieht es wegen der weltweit verbreiteten Kultur staatlicher Subventionen im Bereich Kunstmusik nicht aus. Hier ist das vorherrschende Paradigma viel weniger die stilistische Innovation als vielmehr die Durchsetzungskraft und Selbstbehauptung der Manager von Solisten, insbesondere von den Shooting Stars unter den Sopranistinnen, Pianisten oder Geigern.

Lässt sich die Zukunft der musikalischen Trends überhaupt vorhersagen? (John William Waterhouse' Gemälde 'The Crystal Ball', 1902, pd-old-auto, US p.d.)
Lässt sich die Zukunft der musikalischen Trends überhaupt vorhersagen? (John William Waterhouse‘ Gemälde ‚The Crystal Ball‘, 1902, pd-old-auto, US p.d.)

Fraglos hing der Erfolg der aktuell bekanntesten Musiker, man denke nur an Pretty Yende, Vikingur Ólafsson und Daniel Hope, zunächst von ihren Konzertmanagern, Sponsoren und Studioproduzenten ab. Laufen die Akquisitionen weltweit von selbst, können sie sich häufig selbst ihre Förderer aussuchen. Unterschätzt wird dabei vielleicht der Umstand, dass diese Künstler bereits, als sie noch wenig bekannt waren, über Netzwerke verfügten, die ihnen später nützlich werden können und anhaltende Nachfrage garantieren. Da aber im Zentrum der Verdienstmöglichkeiten nun einmal der Konzerthörer bzw. Musikkonsument steht, sind die Fühler auf ihn gerichtet. Was die meisten mögen, kann nicht falsch sein und so werden munter Konzeptalben produziert, die einen Querschnitt des Populärsten oder Plakativsten präsentieren und hohe Download- bzw. Verkaufszahlen generieren.

Dies bedeutet eine seit längerem weit um sich greifende Dekonstruktion des Gesamtkunstwerks, dessen Organisation, Verfügbarkeit und Einspielung einen erheblich höheren (Ressourcen-)Aufwand bedeutet, denn wiederum nur Staat sich für seine Kulturinstitutionen leisten kann. Es ist durchaus möglich, dass aus einem solchen Grund irgendwann kein Bedarf mehr besteht, weniger bekannte Werke einer Komponistin oder eines Komponisten ins Tageslicht einer Produktion zu rücken, ungeachtet ihrer Qualität. Es mag noch ein umsatzsteigerndes Kriterium sein, aus der Entdeckung eines bislang komplett Unbekannten, wenn er etwas thematisch Alternatives hervorgebracht hat, Gewinn zu ziehen, aber dann ist in der Regel auch die Investition erheblich. Kümmert sich, um nur ein Beispiel zu nennen, um den Renaissancekomponisten Truid Aagesen ein kleineres Label, so wird sein Werk, ungeachtet des Interesses von Musikwissenschaftlern, nicht aus der Grauzone herausfinden und kaum größere Beachtung finden.

Sol Gabetta tourt nicht nur als Cellistin, sondern auch Musikbotschafterin und Sendungsmoderatorin um die Welt: Geben ihre Präferenzen den Trend der Zukunft vor? (Ardiello, S. agata / Pontestura, Italien; 29.11.2014, p.d.)
Sol Gabetta tourt nicht nur als Cellistin, sondern auch Musikbotschafterin und Sendungsmoderatorin um die Welt: Geben ihre Präferenzen den Trend der Zukunft vor? (Ardiello, S. Agata / Pontestura, Italien; 29.11.2014, CC-Liz.)

Gesamtaufnahmen von Opern oder großen Symphonien, die nicht zu den internationalen (historischen) Top Ten gehören wie Beethovens Neunte, dürften somit einen kleinen Hörerkreis ansprechen und dementsprechend teuer produziert sein. Glücklicherweise haben größere Festivals wie die Darmstädter Tage Neuer Musik dank der Erstaufführungen neuester Werke ausreichend Zulauf auch bei weniger vertrautem Repertoire, was bedeutet, dass hier weiterhin und ohne dass ein Ende abzusehen wäre, beständig erfolgversprechende Überraschungen möglich sind. Daneben ist es für eine Belebung der klassischen Musikszenen durchaus von Bedeutung, wenn Manuskripte geborgen und zur Aufführung gebracht werden, die die bisherige Einschätzung einer Komponistin bzw. eines Komponisten deutlich bereichern und verändern können oder gar das gefestigte Bild einer Epoche ins Wanken bringen – wie dies etwa die „Wiederentdeckung“ Luigi Cherubinis als eines Prä-Romantikers leistete.

Berücksichtigt man die dank des World Wide Web gewonnene Vernetzung kultureller Akteure und Informationen, so ist darüber hinaus zu prognostizieren, dass sich die Aufmerksamkeit eines (neugierigen) Hörerpublikums, das immer auch nach etwas Ungewohntem sucht, auf Musikkulturen bisher vernachlässigter oder noch bei weitem nicht erschlossener Länder richten wird, was im Falle der Kunstmusik sowohl auf Portugal, Brasilien, Kanada und Australien als auch auf Regionen und kleinere Länder wie in Europa Katalonien, die Färöer, Grönland, Luxemburg und Belgien, Bulgarien und Kroatien zutrifft. Könnte es sein, dass das gegenwärtige internationale Phänomen des Neonationalismus über kurz oder lang eine Welle des jeweils indigenen Neo-Folklorismus in den Künsten – etwa ein Aufleben und Dominieren der traditionellen Musik der Arawaks in der Karibik oder bei den australischen Aborigines – mit sich bringt?

Artyom Dervoed überraschte 2008 mit einem ungewöhnlichen Programm russischer Kompositionen für Gitarre auf CD (Detail aus Naxos-Cover B01K8O6056).
Artyom Dervoed überraschte 2008 mit einem ungewöhnlichen Programm russischer Kompositionen für Gitarre auf CD (Detail aus Naxos-Cover B01K8O6056).

Nicht zu vergessen die zahlreichen Musikmanuskripte, die durch die zwei Weltkriege des 20. Jahrhunderts verschollen, als Raubgut verborgen oder von privaten Erben im Dachspeicher zurückgehalten werden. Immer noch auf eine umfassende Wiederentdeckung im Sinne der Nachforschung harrt beispielhaft hierfür der vermutlich umfassende Fundus von russischer Gitarrenmusik des 18. Jahrhunderts oder der Schatz isländischer und norwegischer Chormusik des Mittelalters, deren Aufzeichnungen hinter zahlreichen Emporen und in Kirchspielarchiven schlummern mögen …

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