Reaktionen auf Medea: Sympathie oder Abscheu?

Der leibhaftige Kreon, nicht der mythische Bruder der Jokaste und Gegenspieler Antigones, ist König – nicht unbedingt „Tyrann“ – von Korinth und gibt sich in Euripides‘ Verschränkung beider vorherrschender Mythenkreise bzw. in der Vorlage des Librettos von François-Benoît Hoffman großzügig: Er gewährt Jason und Medea nach ihrer Flucht mit dem Goldenen Vlies aus Kolchis freundlich Asyl. Allerdings ist er es auch, der den Stein ins Rollen bringt, da er Jason seine Tochter Glauke als Gattin anbietet. Ein kleines Zugeständnis macht er der angesichts des Treueverrats von Hass und Wut erfüllten Medea, indem er ihr einen Tag Frist lässt, sich zu verabschieden; in dieser Zeit führt sie ihren todbringenden Plan aus, dem zunächst Glauke und schließlich ihre eigenen Söhne zum Opfer fallen.

Medea (Ilia Papandreou) beschwört Jason, ihren Gatten und Vater ihrer Kinder (Eduard Martynyuk) (Lutz Edelhoff, Theater Erfurt).
Medea (Ilia Papandreou) beschwört Jason, ihren Gatten und Vater ihrer Kinder (Eduard Martynyuk) (Lutz Edelhoff, Theater Erfurt).

Für die Rolle Medeas in Cherubinis Oper nach Hoffmans Libretto bedarf es neben der gesanglichen Umsetzung auch der Schauspielkunst, denn wie sollte eine Frau solcher Ambivalenz angemessen dargestellt werden? Als frfemdländische Zauberin wird sie verflucht, als gleichermaßen liebende wie (Jason) hassende Mutter gerät sie mit sich selbst in Konflikt, rational betrachtet ist ihr Zorn auf die fatale Entwicklung der familiären Situation begreiflich.

Ilia Papandreou, Gastsopranistin für die Aufführung und vormals Ensemblemitglied am Theater Erfurt, verstand es die erzürnte ebenso wie die im Wahn agierende, den Männern aber intellektuell überlegene Medea glaubhaft zu verkörpern, mit Leidenschaft ebenso wie mit Ausdruck in den verschiedenen Registern, die der Part abverlangt. Auch bei der zweiten Vorstellung nach der Premiere am 11. November 2017 wirkten Spiel und Stimme der „Sängerin des Jahres 2014“ frisch und originell wie in einer Generalprobe. Das Zusammenwirken mit dem Mann am Pult funktioniert wie selbstverständlich, denn Samuel Bächli dirigierte schon zahlreiche Opern mit Papandreou in Hauptrollen und bewies auch gestern bei Cherubinis „Revolutionsmusik“ seinen packenden Zugriff auf die Partitur.

Medea (Ilia Papandreou) - die einsame Rächerin des Treueverrats (Lutz Edelhoff)
Medea (Ilia Papandreou) – die einsame Rächerin des Treueverrats (Lutz Edelhoff)

Neben ihr konnte stimmlich wie auch als Schauspieler Eduard Martynyuk in der Rolle Jasons vollkommen mithalten. Mimik, Haltung und Bewegung waren perfekt auf den schwierigen Part des schwachen, aufgebrachten und verzweifelten Ehe-Brechers und Vaters zugeschnitten. Siyabulela Ntlale gab Kreon gleichfalls mit großer Glaubhaftigkeit, konnte den leicht aufbrausenden Herrscher ebenso plausibel vermitteln wie den milde gestimmten und in der durch Medeas Auftreten bedingt verunsicherten Regenten. Richard Carlucci, der am gestrigen Freitagabend als Chorsänger inter pares zu erleben war, setzte sich stimmlich im Ensemble mit seinem voluminösen Register beinahe deutlich hörbar in Szene. Julia Neumann als Glauke alias Dircé und zweite Gattin Jasons, der Medea in der Überlieferung ein Hochzeitskleid schenkt, in dem sie verbrennt, agierte gleichermaßen überzeugend und mit hoher stimmlicher Präsenz.

Im Großraumbüro: Créon übernimmt in der modernen Inszenierung durch Guy Montavon ein schwaches Unternehmen (Lutz Edelhoff).
Im Großraumbüro: Créon übernimmt in der modernen Inszenierung durch Guy Montavon ein schwaches Unternehmen (Lutz Edelhoff).

Luigi Cherubini, der spätere leicht despotische Direktor des Pariser Konservatoriums, komponierte auf der Basis von François-Benoît Hoffmans Libretto ein in die Romantik vorausgreifendes Gesamtkunstwerk, dessen Dialogteile gesprochen werden, die Parts in den dramatischen Szenen, Duetten und Arien – in der Erfurter Aufführung dem Original angepasst französisch – aber gesungen werden. Mitleid und Abscheu sind die Gefühle, die der Zuhörer und Zuschauer der Titelfigur Medea entgegenbringen soll, hierin unterscheidet sich Hoffmans und Cherubinis Oper auch deutlich von den zahlreichen früheren Umsetzungen, begonnen beim antiken Drama des als „Frauenversteher“ apostrophierten Euripides und in der Neuzeit mit Francesco Cavallis hochbarockem Musikdrama. Ihrer Struktur und musikalischen Faktur nach steht Cherubinis Medée paradoxerweise dem einstigen Ort der Uraufführung entsprechend in der Tradition der opéra comique.

Bassbariton Siyabulela Ntlale als Créon vor dem Zeichen der Macht, dem "Goldenen Vlies", das Jason aus Kolchis als Geschenk mitbringt (Lutz Edelhoff)
Bassbariton Siyabulela Ntlale als Créon vor dem Zeichen der Macht, dem „Goldenen Vlies“, das Jason aus Kolchis als Geschenk mitbringt (Lutz Edelhoff)

Guy Montavons Inszenierung in Verbindung mit Dramaturgin Lorina Strange und Annemarie Woods, die für die Ausstattung zeichnet, versetzte in sehr kohärenter Weise das Geschehen an Kreons Hof in die moderne Glaskastenwelt der umsatzstarken Wirtschaftsunternehmen einschließlich einer imaginären New Yorker oder Frankfurter Geschäftshausschlucht im Hintergrund. Jason und Dircé müssen, da sie überfordert sind, ihr Unternehmen an den kapitalmächtigen Investor Créon verkaufen. Passend dazu öffnet sich der Vorhang im ersten Akt auf ein Großraumbüro, in dem der Frauenchor an Bildschirmen arbeitet und in der Dircé im Chefzimmer thront, später „bildlich“ abgelöst von Medea, die dort im Outfit der international agierenden Chefin in eigener Sache ihren Racheplan entwirft.

Die Hochzeit zwischen Dircé und Jason scheint perfekt ... käme Medea nicht dazwischen (Lutz Edelhoff, Theater Erfurt).
Die Hochzeit zwischen Dircé und Jason scheint perfekt … käme Medea nicht dazwischen (Lutz Edelhoff).

Einen gewissen Grad an Sympathie, wenn nicht sogar (nachvollziehendes) Verständnis soll der Zuhörer der Figur Medeas offenkundig auch entgegenbringen, denn das Fagottsolo in ihrer Soloarie im zweiten Akt besticht das Ohr durch seine pastorale Einfärbung ebenso wie durch die gleichmäßig auf- und absteigenden Skalenläufe, die sich nur manchmal nach einem größeren Intervallsprung pointiert fortsetzen.

Jean Auguste Dominique Ingres: Luigi Cherubini mit der Muse der "Lyrischen Poesie" (1842, Louvre Museum, INV.5423, US p.d.)
Jean Auguste Dominique Ingres: Luigi Cherubini mit der Muse der „Lyrischen Poesie“ (1842, Louvre Museum, INV.5423, US p.d.)

Der verletzlich dargestellte Jason versucht in dieser modernen Inszenierung, als Medée Rache schwört, beinahe verzweifelt von seiner übrig gebliebenen Macht Gebrauch zu machen, indem er zum Beil greift, dem gebündelten Zeichen der Staatsmacht wie des Rechts, das aber an einen anderen, nämlich an seinen Schwiegervater, den Unternehmer Créon übergegangen ist und nicht zum Einsatz kommt. Noch im Feuer (wie in Pasolinis Film mit Maria Callas) triumphiert die Zauberin Medée nach dem Kindermord auf dem Balkon des Firmensitzes über Jasons und Créons neue Welt.

 

 

 


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