Als wahrer Komet nach der vom europäischen Impressionismus geprägten Wende zum 20. Jahrhundert konnte im damaligen brasilianischen Musikleben der zur Einführung polytonaler Elemente neigende Komponist Glauco Velásquez gelten. Dem bereits im Alter von 30 Jahren Verstorbenen setzte Luciano Gallet, gleichzeitig Berufskollege und Musikforscher, ein Denkmal, indem er eigens eine Gesellschaft gründete, die sich mit dessen Werk und Nachlass beschäftigte. An der ersten in diesem Rahmen veranstalteten Konferenz im Jahr 1917 nahm an prominenter Stelle Darius Milhaud, seinerzeit in Brasilien Botschaftssekretär, teil. Nicht nur Gallet, auch der befreundete Arzt Gaspar Viana hielt Velásquez für den Reformator der Musik auf dem Halbkontinent schlechthin.

Luciano Gallet selbst, der als Heranwachsender Klavierunterricht erhielt und für sein pianistisches Konzertexamen 1916 mit einer Goldmedaille prämiert wurde, beschritt mit der (erneuten) Hinwendung zur Musik keinen ganz gewöhnlichen Berufsweg, nicht einmal für brasilianische Verhältnisse, nach denen professioneller Interessenspluralismus in una persona keineswegs eine Seltenheit darstellte. Bevor er bei Henrique Oswald am Nationalen Musikinstitut in Rio de Janeiro sein Musikstudium aufnahm, hatte er sich nämlich bereits als Architekt graduiert. Das Zusammentreffen mit Milhaud war ein Glücksfall gewesen, denn er konnte diesen über das Engagement für Glauco Velásquez hinaus als Dozenten in Harmonielehre engagieren. Neben frühem Wirken als Dirigent im Anschluss an diese Zeit machte sich Gallet um die Adaption von populärem Liedgut verdient – dies eigentlich ein Zug der europäischen Romantik, auf den Brasilien mit einiger Verspätung aufsprang.

Obwohl er als Komponist heute im eigenen Land kaum mehr bekannt ist, kennt die Nachwelt Gallet doch als empirischen Forscher, nämlich als eifrigen Sammler afrobrasilianischer Musik, außerdem als Herausgeber der Musikzeitschrift Weco. Er transkribierte in diesem Rahmen einige Beispiele für die Gattung der Batucada. Bald begann er auch „Volkslieder“ im engeren Sinn systematisch zu sammeln und zu übertragen, eine Tätigkeit, der er wenigstens zwischen 1924 und 1926 nachging.
Immer wieder kam es vor, dass der spätere Gründer der Associação Brasileira de Música und Direktor des Nationalen Musikinstituts „wiederentdeckte“ traditionelle Lieder für seine eigenen Kompositionen nutzte. Im von Thomas Kupsch kürzlich angeführten Titel Xangô (1929), der auf der gleichnamigen Candomblé-Spielart aus Pernambuco beruht und auf den Donnergott anspielt, finden sich entsprechend afrobrasilianische Elemente. Ebenso verwendete Gallet aber, indem er hier gesamtbrasilianischer Überlieferung folgte, in der Bearbeitung des Wiegenlieds Acanlanto die Figur des Kinderschreckgeistes Tutú Marambá, einer wirkungsvollen „pädagogischen Fiktion“ des 19. Jahrhunderts.

Neben Sonaten, Kunstliedern und etwas Kirchenmusik schuf Luciano Gallet etliche Orchesterwerke, die fast ausschließlich in der brasilianischen Tanzkultur verwurzelt sind und mit dieser spielen. Von ihnen seien hier nur Tango-batuque (1919), Suite bucolica (1920), Dança brasileira (1925) und Toca-zumba (1926) hervorgehoben. Allzu früh, schon mit 38 Jahren, als er den Zenit seiner Karriere als Leiter der wichtigsten brasilianischen Musikhochschule eben erreicht hatte, verstarb Luciano Gallet in Rio de Janeiro.
Literatur
Thomas Kupsch: O Mundo Sonoro Brasileiro. Eine Einführung in die Klangwelt Brasiliens. Geschichte, Einflüsse, Porträts. Göttingen 2017. S. 101 ff.
Barros, José D’Assuncão: Raízes da música brasileira. São Paulo 2011.
Centro de Documentação e Pesquisa da FUNARTE (Hg.): Luciano Gallet via Mário de Andrade. Rio de Janeiro 1979.
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