Der unter anderem durch Theokrit inspirierte Eutiner Gelehrte und Dichter Johann Heinrich Voss muss es von Homer gekannt haben, dessen mutmaßliche Bücher Odyssee und Ilias er 1781 und 1793 kongenial in deutschsprachige Verse übertrug und übrigens auf eigene Kosten veröffentlichte. Ein typisches Merkmal dieser ältesten europäischen Epik aus dem 8. oder 7. Jahrhundert v. Chr. war nämlich die nahezu listenartige Aufzählung von Dingen, etwa der bekannte „Schiffskatalog“ oder die minutiöse Darstellung der Verfertigung von Achills Schild in der Ilias. Und diese machte sich Voss in sehr spezifischer Weise zu eigen …

Der in jungen Jahren dem Göttinger Hainbund angehörende, aus Sommerstorf nahe der Müritz stammende uneheliche Sohn einer Organistentochter dichtete in seiner Sturm-und-Drang-Phase um 1775 die adelskritische Vers-„Idylle“ Die Leibeigenschaft. Aus dieser Arbeit war nicht (im Traum) zu ersehen, dass sich der spätere Heidelberger Gelehrte vor allem wegen seiner Homer-Übersetzungen einen Namen machen würde. Er tendierte aber gerade im Falle der antiken Dichtung, die schon im Zuge der Empfindsamkeit und nicht erst in der klassischen Periode einen neuen enormen Aufschwung nahm, weiter zur Gattung der Idylle, wenn auch in diametralem Gegensatz zu früheren Intentionen Ende der 1770er Jahre zu deren behaglich-konservativen Zügen.

Sowohl in der Idylle Der Abendschmaus (1778) als auch in Die Kirschpflückerin (1780) und in dem umfangreicheren Der siebzigste Geburtstag aus demselben Jahr widmete er sich einem einigermaßen beschaulichen Thema des ländlichen Lebens, nämlich der (gelebten) persönlichen Überzeugung, dass Liebe, Freundschaft und Familie (sprich)wörtlich „durch den Magen gehen.“ Als Bumerangreaktion auf Voss‘ Kritik an Johann Heinrich Bodmers Auffassung des Hexameters parodierte übrigens der Schweizer Epik-Kollege den siebzigsten Geburtstag gerade wegen der hier an den Tag gelegten homerisch-katalogartigen Detailbesessenheit.
Ganz und gar im Ton seiner nur ein Jahr später vorgelegten Odyssee-Übertragung führt der schon zum Homer-Experten avancierte Dichter im Abendschmaus seine Kunst des Hexameters vor. Dafür nahm er Anleihen bei dem spätantiken Autor Athenaios, dessen Rezeption der Werke des hellenistischen Dichters Matron von Pitane und bei Homer selbst, verdrehte aber die antike Versdichtung auf witzige Art und Weise. Anlass war eine Gegeneinladung an die befreundete Familie Mumsen in Hamburg, die ihn großzügig bewirtet hatte. Voss ließ also nach detailliert festgelegten Vorstellungen von Ernestine ein Festmahl kredenzen. Wenig später in Verse gegossen konnte es die Idylle mit Homers, Anakreons und Theokrits Ton durchaus aufnehmen:
Sprach’s und zerschnitt den Fasan, mit indischen
Vogelnestern,
Wie man erzählte, gewürzt und Azia. Hurtig verteilte
Diesen ein bunter Lakai …
Und ein anderer fragte, wer Pontak, sechziger Rheinwein,
Oder Burgunder beföhle …
Hierauf reichte dieser die weingesottenen Schmerlen;
Jener den Kabliau, mit Austerbrühe bereitet. …
Hierauf kam das Gemüs: als Bohnen, junge Karotten,
Erbsen und Blumenkohl mit Artischocken und Krebsen; …
Drum verspar ich dir die Beschreibung vom prächtigen
Nachtisch;
Von den Torten, Makronen, von Quittenschnee und
Meringeln;
Und von dem Himbeereise, woran mir Stümper die Zunge
Fast verfror; …
Von den Granaten, Melonen, des Ananas beißender Süße …

Die für sich sprechende Detailfreude des beflissenen Dichters fand ihre Fortsetzung in der nahezu neuesten und direktesten Form der Versdichtung, in der Slam Poetry. Ganz nach dem Muster von Johann Heinrich Voss dichtete Timo Brunke eine ländliche Idylle auf einen Supermarkteinkauf, als aberwitzige Parodie der Homer-und-Athenaios-Parodie, unter dem Titel Tetra-Ode im Übermarkt – ganz im emphatischen Stil des Versepos. Hier eine Probe:
Sag mir, wo, an welchen Zweigen reift er wohl,
Tiefgekühlt: der Pommessack – nenn den Garten
Sag, in welchem Paradiese
Pflückst du Toastbrot vom Strauch?
Tütensuppenmassiv, Hundkatzenfuttergefild,
Kurzwarenstangen am Weg, Süßigkeitsgrapscharsenal …
Quellen
Johann Heinrich Voss: Idyllen und Gedichte. Stuttgart 1967/1977.
Ko Bylanzky; Rayl Patzak (Hg.): Planet Slam. Riemerling 2002. [Zit.] S. 26.
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