Theodore Thomas und die Boston Six

Als Wiege der Ausübung von US-Kunstmusik vor größerem Publikum gilt Boston, heute eine der wohlhabendsten und auch größten Städte der Welt, die Einwanderer aus Europa (schon seit ihrer Existenz) magisch anzog: 1729 fand das erste öffentliche Konzert dort statt, New York und Philadelphia folgten mit einigen Jahren Verspätung. Aufs Ganze gesehen waren freilich die in den Südstaaten angesiedelten Neuamerikaner aus Italien, Spanien oder Portugal am deutlichsten an einer Entwicklung des klassischen Musiklebens interessiert, was aus der Tatsache der ersten nordamerikanischen Opernaufführung 1735 in Charleston im Bundesstaat South Carolina deutlich wird.

1891 übernahm Theodore Thomas das neu gegründete Chicago Orchestra, das ab 1906 seinen Namen trug und seit 1912 als Chicago Symphony Orchestra firmiert (5.2. 1907, LCCN2007663605, US p.d.).
1891 übernahm Theodore Thomas das neu gegründete Chicago Orchestra, das ab 1906 seinen Namen trug und seit 1912 als Chicago Symphony Orchestra firmiert (5.2. 1907, LCCN2007663605, US p.d.).

Gerade von den Südstaaten gingen dann für die sprunghafte Zunahme auch kompositorischer Aktivitäten die wesentlichen Impulse im 19. Jahrhundert aus, auch, was die eher mühsame Emanzipation der nordamerikanischen von der europäischen Musik betrifft. Zurück an die Nordostküste und damit nach Boston: Ohne das kaum zu ermessende Engagement des im ostfriesischen Esens geborenen Dirigenten Theodore Thomas (1835 – 1905) lässt sich die rasante Popularisierung klassischer Werke, gerade auch von Oratorien, in den USA kaum verstehen. Insbesondere für seine „Monster Concerts“ konnte er Aberhunderte von Musikern und zehntausende Zuhörer gewinnen.

Am Pult: Theodore Thomas (US p.d.)
Am Pult: Theodore Thomas (US p.d.)

Diese Verdienste waren nur möglich auf einer hart erarbeiteten praktischen Basis. Thomas erwarb sich seine Position als Leiter diverser Orchester einschließlich seines selbst begründeten durch Anfänge als Geiger in der Navy Band und etlichen kleineren Formationen. Auf den vielen Touren im Land in der Rolle des Violinsolisten wurde er zum Allrounder und verkaufte sogar selbst die Tickets für seine Konzerte. 1850 kehrte er nach new York zurück und ließ sich nunmehr professionell als Dirigent ausbilden.

Unter anderem hatte er das Glück die erste Geige in jenem Klangkörper zu spielen, der die international berühmte Sängerin Jenny Lind begleitete. Bereits 1856 avancierte er zum Konzertmeister der New York Philharmonic Society und begründete mit dem Pianisten William Mason eine eigene Kammermusikreihe. Nach Zwischenstationen unter anderem in Cincinnati gelang ihm 1891 die Übernahme des eben aus der Taufe gehobenen Chicago Orchestra. Den eigentlichen Grundstein für die enorme Ausweitung der klassischen Musikszene gaben jedoch im Anschluss an seine Symphonic Soirées in Irving Hall ab 1869 die Orchesterreisen kreuz und quer durch die USA und Kanada unter dem Motto Thomas Highway.

Das Cincinnati College of Music wurde von 1878 - 1880 von Theodore Thomas geleitet; in der Memorial Hall dort hat sein Andenken einen festen Platz (4.11.2006, Wangry, US p.d.).
Das Cincinnati College of Music wurde von 1878 – 1880 von Theodore Thomas geleitet; in der Memorial Hall dort hat sein Andenken einen festen Platz (4.11.2006, Wangry, US p.d.).

Bis zur Jahrhundertwende hatte sich in Boston schließlich eine mehr oder minder feste Gruppe etabliert, die sich insgesamt an der Musik des Fin de siècle, mithin an spätromantischen und impressionistischen Vorbildern, orientierte. Zu ihnen zählen die Pianistin Amy Beach, der Organist Arthur William Foote, Edward MacDowell, George Whitefield Chadwick, Horatio Parker und John Knowles Paine. Der Musikhistoriker Gilbert Chase fügte sie in seine Identifizierung einer Second New England School ein, die ihren Ausgang von den Hymnodisten Ende des 18. Jahrhunderts, vor allem initiiert durch William Billings, ausging. Charles Theodore Griffith gehörte nicht zum engeren Kreis der Gruppe, muss aber in einem Atemzug mit ihr genannt werden. Einen starken Akzent legten die Komponisten, die bereits auf Augenhöhe mit den europäischen Kolleginnen und Kollegen arbeiteten, auf individuelle sakrale, auch „schwarz“ gefärbte Werke und progressive Orchestermusik, die sie tatsächlich von den gleichzeitigen überseeischen Strömungen abkoppelte.

 

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