Eine Fliesenillustration am U-Bahnhof Deutsche Oper in Berlin verewigt einen französischen Komponisten der Romantik, dem (nicht nur) gelegentlich ein Hang zum Empfindsamen ebenso nachgesagt wurde wie eine leicht schwebende, gesanglich gefällige Melodie- und Orchesterstimmenbehandlung. Charles Gounod (1818 – 1893) verzichtete auf übertriebenes Pathos, die Auslotung der Extreme und suchte nach einer lyrischen Musiksprache, die manchmal Volkstümliches einbezog.

Möglicherweise gehörte der in Paris Geborene und Situierte aber, sieht man vom Erfolg seiner späteren Opern ab, zu den Unverstandenen zu Lebzeiten und ebenso des 20. Jahrhunderts, zumal die Kritik sich selten umfassend über die verschiedenen Aspekte seines Gesamtwerks informierte und gerne das Ave Maria zum Ausgangspunkt jeglichen ästhetischen Urteils nahm, das ihn diskreditierte.

In der Erfurter Aufführung am Freitag, für die der europaweit agierende Regisseur Federico Grazzini verantwortlich zeichnete, verstand es Samuel Bächli am Pult, der polyphonen Komplexität von Gounods Oper Roméo et Juliette aus dem Jahr 1867 Rechnung zu tragen und gleichzeitig die feinen, noblen Seiten der melodischen Faktur und der harmonischen Gestaltung zu betonen. Auch die dahinfließende, zäsurenlose Ganzheit jedes einzelnen Akts wurde bei dieser Aufführung bewusstgehalten. Den Zusammenhalt der Szenen gewährleistet ohnehin die schwerelos scheinende und dabei changierende Begleitung, die als zwar „tragischer“, aber nicht insistierender cantus firmus den Untergrund des Geschehens durchströmt.

Sehr deutlich wird im Libretto an der Scharnierfunktion der Figur des Paters, am Freitag stimmlich markant verkörpert durch Gregor Loebel, dass nicht nur die Verfeindung der Montaigus und Capulets, sondern die Gesellschaft als solche für den Tod des ungewöhnlichen Liebespaars verantwortlich ist: Er verabreicht das nur lähmende Gift, das Roméo schließlich glauben lässt, Juliette sei gestorben. Ungewöhnlich genug setzt Gounod auf empfindsame, lyrische Töne, welche die Liebesbeziehung in den Mittelpunkt rücken. Nahezu jeder Takt der Aufführung hob dieses teilweise alternative Verständnis des Shakespeare’schen Dramas hervor.

Engelsgleich und dennoch dramatisch voluminös wirkten die Stimmen beider Protagonisten, realisiert vom gefühlsinnigen Ton Won Whi Chois und Julia Neumanns, die hier Daniela Gerstenmeyer in Juliettes Rolle ablöste. Stimmlich sprang der Tenor Václav Sibera von der Prager Oper – kurzfristig angereist – für Richard Carlucci ein, der wegen einer Erkrankung seinen Part nur szenisch und dennoch sehr überzeugend spielen konnte. Roméos Page, gesungen von Yuan Zhang, stellte ebenso eine große Bereicherung dieses Abends dar wie die Auftritte Katja Bildts als Juliettes vertraute Amme Gertrude und Maté Sólyom-Nagys als für sie ausersehener Verlobter. Schauspielerisch und gleichermaßen vokal eroberte sich wiederum Siyabulela Ntlale als Roméos Freund Mercutio die Herzen der Zuhörer.
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